18. Januar 2014
Buchtipp
Der digitale Narkotiseur
Der homo digitalis von heute, wie Byung-Chul Han in seinem kürzlich erschienen Buch „Im Schwarm. Ansichten des Digitalen“ die Teilnehmer digitaler Medien nennt, braucht keine Psychopharmaka oder „Maskone“ mehr um der als unvollkommen empfundenen Realität zu entfliehen. Es sind auch nicht mehr die Religionen, sondern Optimierungstechniken, mit deren Hilfe wir uns der Faktiziät wie Körper, Zeit, Tod etc. entgegenstellen würden. Die Lem’sche „psywilizacja“ kann heute ganz ohne chemische Mittel und Pillen erreicht werden, denn laut Han ist „das digitale Medium […] defaktifizierend“[1].
„Wer wird sich mit dem Clausewitz quellen? Pulver macht euch zu Generälen.“ — Stanislaw Lem, „Der futurologische Kongress“
Der Name „Maskone“ (maskony) kommt von „Maske”, erläuterte Professor Trottelreiner dem Helden der Erzählung „Der futurologische Kongress” Stanislaw Lem’s, Ijon Tichy, nachdem sich dieser letztendlich beginnt damit abzufinden, in einer schönen und harmonischen Welt der Zukunft aufgewacht zu sein. Bei Eintritt ins Gehirn vermögen entsprechend synthetisierte Maskone jedes beliebige Objekt der Außenwelt so geschickt durch Scheinbilder zu verhüllen, dass die chemaskierte Person nicht weiß, was an dem Wahrgenommenen echt und was vorgetäuscht ist. „Sie wären entgeistert!“ warnt der Professor Tichy davor, einen Blick auf die Welt zu werfen, die ihn wirklich (ohne Einnahme der Maskone) umgibt[2].
Für den Philosophen, Medientheoretiker, aber vor allem hervorragenden Beobachter und Analytiker, Byung-Chul Han, hat das weitreichende Implikationen für die Gesellschaft und Politik. Hier sind ebenfalls die Ursachen für die aktuellen Entwicklungen in digitalen Medien zu suchen. Idealprofil im Netz kann nun ein Schutzmechanismus gegen die als unvollkommen empfundene Realität sein. „Schöne Fotos als Idealbilder schirmen … von der schmutzigen Realität ab“, bestätigt Han und verweist auf das sogenannte Paris-Syndrom, unter welchem vor allem die japanischen Touristen in Europa leiden. Der Auslöser starker körperlicher Beschwerden, wie Herzassen, Schwindel und Schwitzen, ist die starke Diskrepanz zwischen dem Idealbild von Paris, das die Touristen vor dem Besuch französischer Hauptstadt haben und der Wirklichkeit während des Besuchs. Han nimmt an, dass die „zwanghafte, fast hysterische Neigung der japanischen Touristen, Fotos zu machen“[3] ihre Ursache in eben diesem Syndrom hat und eine Art Schutzmechanismus vor der erschreckenden Realität darstellt.
Ähnliches passiert dem Helden des Lem‘schen SF-Roman „Der futurologische Kongress“, Ijon Tichy. Nur, dass sein Simulacrum vom Symington, dem „einzigen sehenden Mensch im ganzen Staat“ mithilfe Narkotika erzeugt wird. „Wir narkotisieren die Zivilisation, denn sonst ertrüge sie sich selbst nicht“, eröffnet Tichy der „endzeitliche Narkotiseur“. Infolge der Überbevölkerung und Klimaveränderung bevorstehendes Ende der Welt wird den Menschen mit Maskonen und Neo-Maskonen angenehm gemacht. Ihnen wir eine friedliche, schöne, sonnige Welt vorgegaukelt. „Da sie nun einmal zugrunde gehen muss, bleibt dafür zu sorgen, dass sie nicht leidet“, sagt Symington über die Welt und leistet den letzten Samariterdienst, indem er mithilfe Pharmaka die Menschen daran hindert, die unerträglich gewordene Realität zu erkennen.
Tichy wacht, nachdem die Narkotika zu wirken aufhören, wieder auf dem futurologischen Kongress auf.
Homo digitalis bleibt freiwillig ein Teil der Simulation und erschafft sie mit
Während der Smartphone oder die Digitalkamera noch als „Werkzeuge“ klassifiziert werden könnten, gehen die Erfindungen wie Google Glas wesentlich weiter. „Das Google Glas rückt uns so sehr auf den Leib, dass es als ein Teil des Körpers wahrgenommen wird“[4], konstatiert Han. Die Datenbrille verwandelt das menschliche Auge selbst in eine Kamera, die permanent mit dem Internet verbunden ist. Nicht in irgendeine Kamera, warnt Han – es ist zugleich eine Überwachungskamera. Die Google Glas macht es möglich, dass jeder permanent von Fremden fotografiert und gefilmt werden kann. „Das Sehen fällt gänzlich mit der Überwachung zusammen“, so Han. Die Datenbrille leitet das Zeitalter der Totalinformation ein. „Hier beobachtet und überwacht jeder jeden“, schreibt Han, nicht nur staatliche Geheimdienste und Unternehmen wie Google und Facebook. Arbeitgeber überwachen ihre Mitarbeiter und durchleuchten ihre Kunden. Mitarbeiter, Bürger und Kunden überwachen und kontrollieren sich mittels digitaler Kommunikation gegenseitig. Und vor allen: homo digitalis kontrolliert und überwacht sich selbst.
Roland Barthes bezeichnete die Privatsphäre als „jene Sphäre von Raum, von Zeit, wo ich kein Bild, kein Objekt bin“. Im Hinblick auf die Omnipräsenz digitaler Kameras gibt es heute praktisch kein Raum mehr, wo kein Bild von einem Menschen entstehen würde, wo er kein Bild wäre. Wenn ausreichend Daten vorhanden sind besteht die Möglichkeit, diese auszuwerten. Aus Big Data kollektive Verhaltensmuster der Massen herauszulesen, deren man sich als Individuum nicht einmal bewusst ist, läutet laut Byung-Chul Han das Zeitalter digitaler Psychopolitik ein. Macht eine digitale Psychoanalyse das gesellschaftlich Unbewusste zugänglich, trägt sie damit zur Vollendung der Transparenzgesellschaft bei[5]. Die Psychomacht ist laut Han deshalb so effizient, weil sie „die Menschen nicht von außen, sondern von ihnen her überwacht, kontrolliert und beeinflusst“[6].
Und das ganz und gar ohne Pillen, Pulver oder „Maskone“.
[1] Han, Byung-Chul, 2013. Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Matthes & Seitz Verlag, Berlin, S. 43.
[2] Lem, S. 1994 (1972) Der futurologischer Kongress, Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Frankfurt Am Main.
[3] Han, Byung-Chul, 2013. Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Matthes & Seitz Verlag, Berlin, S. 41.
[4] Han, Byung-Chul, 2013. Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Matthes & Seitz Verlag, Berlin, S. 59.
[5] Vgl. Han, Byung-Chul, 2013. Digitale Rationalität und das Ende des kommunikativen Handelns, Matthes & Seitz Verlag, Berlin, S. 27.
[6] Han, Byung-Chul, 2013. Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Matthes & Seitz Verlag, Berlin, S. 101.
Ein Kommentar
[…] des Homo digitalis, wie Byung-Chul Han in seinem kürzlich erschienen Buch „Im Schwarm“ die Teilnehmer digitaler Medien nennt. Es ist an der Politik, ob sie diese Chance […]