Arbeitskreis Digitale Gesellschaft

SPD Schleswig-Holstein

30. September 2014

Big Data
Nummerokratie I – Rechnen einst und heute

Eine große Zahl: 1 | Foto: andrechinn - CC BY 2.0

„Es ist so, weil es so ist, sonst wäre es nicht so.“ – Thomas Fischer1

Es gibt eine Übung, die von Lebensberatern und Berufscoaches eingesetzt wird: Wenn du vor etwas Angst hast, stellt dir vor, es befindet sich hinter einer Tür. Dann öffne diese Tür und gehe hinein. Beobachte das, was dir Angst macht, und gehe weiter. Der Clou ist, dass, wenn man sich mit dem, wovor man Angst hat, befasst, dies einem plötzlich weniger oder keine Angst mehr macht. Eine ähnliche Übung braucht man eventuell, damit aus „Big Angst“, wie es mein verehrter Kollege Yannick Haan in seinem Beitrag „Big Angst hilft nicht – warum wir eine andere Debatte über Big Data brauchen2 bezeichnete, wieder nur Big Data wird.

Dabei sind zwei wesentliche Faktoren zu beachten. Erstens: Der Mensch. Samt seiner Fehler und Zweifel, der die Zahl und den Computer zur Gottheit erhoben hat und sich selbst gottesgleich vorkommt, indem er sie bedienen und beherrschen kann. Damit befasse ich mich in „Nummerokratie I“.

Zweitens ist da noch die Methodik. Pfui, die Wissenschaft, sagen an dieser Stelle viele. Doch bei Massendatenauswertungen ist es genau die Wissenschaft, die Analyse, das Aufstellen von Vermutungen, Hypothesen, Annahmen etc. – all das, was ein repräsentatives Ergebnis von einem Haufen nutzloser Zahlen unterscheidet. Damit befasse ich mich in „Nummerokratie II“.

Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.

„Lesen ist wirklich ein Wunder“, schreibt Rudolf Flesch in seinem Buch Besser schreiben sprechen denken3. „Ihre Augen nehmen Gruppen von Wörtern in Bruchteilen von Sekunden auf, und Ihr Gehirn bewahrt diese Wörter in feinem Gleichgewicht bis zu dem Punkt, an dem sich ein Sinn ergibt.“4 (sic!). Dies kommt daher, dass die Augen in einer Drittelsekunde gewöhnlich mehr als ein Wort aufnehmen. „Ihre Augen bewegen sich entlang der gedruckten Zeilen in rhythmischen Sprüngen. Nach jedem Sprung halten Sie kurz inne, konzentrieren sich auf ein oder zwei Wörter und gehen weiter. Von Zeit zu Zeit, wenn sie unbewusst spüren, dass Sie noch einmal nachprüfen müssen, wandern Ihre Augen zurück“, hält Flesch5 fest. Bei einem Durchschnittsleser eines durchschnittlichen Textes kommt man so auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von ungefähr 200 Wörtern in der Minute.

Unser Gehirn hat keine Zeit, Buchstabe für Buchstabe zu lesen, das Wort wird beim Lesen als ein Ganzes genommen, konstatiert Flesch. Wörter erhalten ihre Bedeutung erst aus dem Zusammenhang. Das Gehirn erfasst die Bedeutung erst, wenn der Satz oder der Absatz zu Ende ist. So sei der häufigste Lesefehler, dass ein Wort versehentlich für ein anderes genommen wird. Vereinfacht ausgedrückt: Wir verstehen, was wir glauben, gelesen zu haben, und nicht unbedingt, was wir gelesen haben. „Deshalb“, so Flesch, „sind gute Korrektoren so rar.“6

Beim Lesen, wie im normalen Leben, gibt es Erkenntnisfehler ersten und zweiten Grades. Beim ersten handelt es sich um die Überzeugung, dass es etwas gibt, was gar nicht existiert. Also wenn in einem Text „Stragetie“ steht, lesen und verstehen wir automatisch „Strategie“ (obwohl es gar nicht im Text steht). Noch interessanter ist der Erkenntnisfehler zweiten Grades, welcher besagt, dass wir uns weigern, an etwas zu glauben, was es tatsächlich gibt. Also beispielsweise, dass 2 plus 2 immer in Summe 4 ergibt.

Aas muss gut sein. Millionen Fliegen können nicht irren.

Dan Kahan aus der Yale Law School (und drei weitere Wissenschaftler)7 bestätigte in einer Reihe von Experimenten, dass eine feste politische Überzeugung sogar unsere mathematischen Fälligkeiten beeinträchtigen kann. 1.100 Experimentteilnehmerinnen und -teilnehmer erhielten die gleichen Daten und wurden um ihre Analyse gebeten. Diese Daten wurden verwendet, um die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von der Wirksamkeit – oder der Unwirksamkeit – eines Hautpflegemittels zu überzeugen sowie über die Steigerung oder das Senken der Kriminalitätsrate infolge des Verbotes des Feuerwaffenbesitzes (ein in den USA heiß diskutiertes Thema).

Die Daten bezüglich der Wirkung der Hautcreme wurden fast durchgehend richtig interpretiert, und zwar bei den Personen mit besseren mathematischen Kenntnissen besser als von den Teilnehmer/-innen mit wenig mathematischen Kenntnissen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Interpretation mit den tatsächlichen Aussagen des Zahlenmaterials übereinstimmte, war relativ hoch.

Wahrlich interessant waren dagegen die Ergebnisse bezüglich des Verbotes von Feuerwaffen. Die liberalen Demokraten haben die Ergebnisse, welche einen positiven Zusammenhang zwischen dem Verbot und der Senkung der Kriminalität aufzeigten, richtig interpretiert. Legte man ihnen jedoch Daten vor, die auf die steigende Kriminalität aufgrund des Feuerwaffenbesitzverbotes zeigten, interpretierte sie die Daten falsch und schlussfolgerten entgegen der Zahlen, das Verbot hätte gewirkt (d. h., aus ihm resultierte weniger Kriminalität). Bei den konservativen Republikaner verhielt es sich genau umgekehrt. Die gleichen Daten wurden richtig interpretiert, sobald sie auf einen positiven Zusammenhang zwischen Feuerwaffenbesitz und sinkender Kriminalität hingewiesen haben. Haben die Zahlen das Gegenteil gezeigt, deuteten die Konservativen das Ergebnis ihren politischen Einstellungen entsprechend – und eben nicht den Daten folgend.

Damit aber nicht genug.

Die Experimente zeigten, dass, je besser die mathematischen Fähigkeiten der Teilnehmer waren, desto schlechter sie die Daten interpretierten beziehungsweise nutzten die mathematischen „Brains“ selektiv ihre Fähigkeiten, um die Daten konform zu ihren Überzeugungen zu interpretieren. Wie Peter Watts8, ein kanadischer Science-Fiction-Schriftsteller, dies kommentierte: „Falls die Zahlen widerlegen, woran du glaubst, wirst du falsch rechnen. Falls die Zahlen deinen Überzeugungen widersprechen und du bist auch noch ein mathematisches Genie, wirst du so schlecht rechnen, wie es nur irgendwie geht.“

Das e-Apogeum des Selbstbetrugs

Das Fazit: Nicht nur beim Lesen überliest man Sätze und Wörter. Beim Rechnen geht es mindestens genauso gut. Und zwar je besser man im Rechnen ist, desto schneller ist man davon überzeugt, dass 2 plus 2 eben 5 (und nicht 4) ist.

Was im realen Leben so gut funktioniert, funktioniert in den virtuellen Welten umso besser. Unser Verhalten im Internet, so Zygmunt Baumann, ist lediglich ein Abbild unserer Gesellschaft. Das Internet dient nur als Verstärker der Phänomene, die es offline entweder schon längst gibt oder ohnehin geben würde. Big Data Mining macht in dieser Hinsicht vieles möglich und eröffnet ungeahnte Perspektiven. Es ist beispielsweise ein Leichtes zu beweisen, dass Babys von Störchen gebracht werden. Die positive Korrelation zwischen der wachsenden Population an Störchen bzw. der Anzahl von Storchnestern und dem Baby Boom kann zweifelsfrei anhand von Massendaten bestätigt werden. Denn Big Data Mining steht heute für alles, was Statistik ohne Theorie leisten kann.

Mehr dazu in „Nummerokratie II“.

Fußnoten

1 Fischer, Thomas. 2014. „Bewerten, Beweisen, Verurteilen. Antwort auf Puppes Polemik über die „Methoden der Rechtsfindung des BGH“ (ZIS 2014, 66). In der Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik, www.zis-online.de (S. 97–101, hier S. 100). 

2 Haan, Yannick, 2014. „Big Angst hilft nicht – warum wir eine andere Debatte über Big Data brauchen“, https://spd-netzpolitik.de/berlin/big-angst-hilft-nicht-warum-wir-eine-andere-debatte-ueber-big-data-brauchen (17.9.2014).

3 Flesch, Rudolf. 1973. Besser schreiben, sprechen, denken. Anregungen, Übungen, Tests. Düsseldorf, Wien: Econ Verlag.

4 Ebenda, S. 111.

5 Ebenda, S. 110.

6 Ebenda, S. 112.

7 Kahan, Dan M. and Peters, Ellen and Dawson, Erica Cantrell and Slovic, Paul. 2013. Motivated Numeracy and Enlightened Self-Government (September 3, 2013). Yale Law School, Public Law Working Paper No. 307. (http://ssrn.com/abstract=2319992 or http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2319992).

8 Watts, Peter. 2014. Atak matematyki, czyli upadek wiedzy empirycznej. In: Nowa Fantastyka 08 (383) 2014. S. 73.

Aleksandra Sowa

Leitete zusammen mit dem deutschen Kryptologen Hans Dobbertin das Horst Görtz Institut für Sicherheit in der Informationstechnik. Dozentin, Fachbuchautorin (u.a. "Management der Informationssicherheit", "IT-Revision, IT-Audit und IT-Compliance"). Im Dietz-Verlag erschienen: "Digital Politics - so verändert das Netz die Politik". Hier äußert sie ihre private Meinung. #Foto by Mark Bollhorst (mark-bollhorst.de)

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