14. September 2015
Buchtipp
Zur Dissonanz zwischen Politik und Technologie oder: Ein Rechner ohne Namen
- Stau in der Moderne | Foto: Lukas Kästner - CC BY-SA 2.0
„Bekanntlich hat schon der junge Marx die Auffassung vertreten, der kapitalistische Produktionsprozess führe notwendig zu einer fünffachen Entfremdung der Subjekte von ihren Handlungen (ihrer Arbeit), von ihren Produkten (den Dingen), von der Natur, von anderen Menschen (der sozialen Welt) und schließlich von sich selbst“[1], schreibt Hartmut Rosa in seinem Buch Beschleunigung und Entfremdung.
Obwohl es keine unumstrittene Definition des Begriffs „Entfremdung“ gibt, zeigt Rosa, dass die soziale – nicht zuletzt begünstigt durch die technologische – Beschleunigung dabei ist, Schwellenwerte zu überschreiten, jenseits derer Menschen notwendigerweise nicht nur von ihren Handlungen, Dingen, anderen und sich selbst, sondern auch von Zeit und Raum entfremdet werden.
„Soziale Beschleunigung lässt sich definieren als die Steigerung der Verfallsraten der Verlässlichkeit von Erfahrungen und Erwartungen“, so Rosa. Das wird besonders im technischen Bereich deutlich, wo die praktischen Kompetenzen verloren gehen, weil „Erfahrung in immer schnellerer Folge durch Innovation entwertet wird“[2].
„Mit Word-for-DOS kannte ich mich wirklich aus – ich kannte jede Option, jeden Trick und konnte damit alles Nötige tun. Auch mit Windows-XP kannte ich mich einigermaßen aus: Für meine praktischen Zwecke konnte ich es gut gebrauchen. Aber mit den neuen Vista-Oberflächen fühle ich mich wie ein Analphabet […]. Kurz gesagt: die neue Software und ich sind wirklich voneinander entfremdet, und dasselbe gilt für meine neue Uhr, meinen neuen iPod […] und meine neue Mikrowelle.“[3]
Der erste Rechner wurde noch gewartet, entstaubt, getuned, man gab ihm häufig sogar einen Namen. Heute sind die Geräte, mit den wir arbeiten, auswechselbar und werden ausgetauscht, noch bevor sie kaputt gehen. Wir entfremden uns nicht nur von den uns umgebenden Dingen, sondern entwickeln dazu auch noch schlechtes Gewissen ihnen gegenüber, weil wir sie nicht richtig zu behandeln wüssten. „Sie sind so wertvoll und smart, und wir gehen mit ihnen wie Idioten um“, konstatiert Rosa.
Eine unbeabsichtigte Nebenfolge der allgemeinen Dynamisierung und Beschleunigung sind die Phänomene der Verlangsamung. „Das bekannteste Beispiel für dysfunktionale Entschleunigung ist zweifellos der Stau, der einen Stillstand gerade deshalb produziert, weil ein jeder entschlossen ist, sich schnell fortzubewegen“[4], schreibt Rosa. Auch eine progressive Verlangsamung demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung werde just durch die Prozesse der Dynamisierung bewirkt, welche „die Beschleunigungstendenz der Moderne charakterisieren“[5]. Je heterogener und instabiler die sozialen Gruppen seien und je schneller sich die Hintergrundbedingungen ändern, desto langsamer und zeitaufwendiger werde der Deliberationsprozess. „[D]ie Politik [wird] heute nicht mehr als Schrittmacher sozialen Wandels wahrgenommen“, so Rosa, also würde die fortschrittliche Politik versuchen, „technologische und ökonomische Vorgänge zu ‚zähmen‘, um eine gewisse Kontrolle über die Geschwindigkeit und Richtung des sozialen Wandels zu behalten oder wiederzugewinnen“. Die konservative Politik dagegen plädiere gerade für die Abschaffung politischer Kontrollinstrumente, um die Beschleunigung sozioökonomischer und technologischer Prozesse zu begünstigen. Der Widerspruch zwischen den fortschrittlichen und konservativen Tendenzen in der Politik führe zu einer „Desynchronisation zwischen der Sphäre der Politik und der technologischen Welt“[6], schreibt Rosa.
„Natürlich lässt sich auf eine gewisse Weise auch Demokratie beschleunigen: Mit Hilfe von Internet-, Radio- und Fernsehumfragen lassen sich fast in Sekundenschnelle Mehrheiten erheben und Meinungsbilder erstellen. Aber diese reflektieren keinerlei Deliberationsprozess, in dem Argumente formuliert, ausprobiert, erwogen und weiterentwickelt würden.“[7]
Vielmehr, so Rosa, würden solche Umfragen „Bauchreaktionen“ zum Ausdruck bringen, die oft vollständig „immun sind gegenüber der Kraft der besseren Argumente“[8].
[1] Rosa, Hartmut. 2013. Beschleunigung und Entfremdung – Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Suhrkamp, S. 122.
[2] Ebd., S. 127.
[3] Ebd., S. 128.
[4] Ebd., S. 49.
[5] Ebd., S. 102.
[6] Ebd., S. 103.
[7] Ebd., S. 81.
[8] Ebd.