Arbeitskreis Digitale Gesellschaft

SPD Schleswig-Holstein

9. September 2015

Partizipation
You should be more explizit in step two! – Experimente zur Bürgerbeteiligung im Internet

Diskussion und World Cafe
Diskussion und World Cafe | Foto: Steffen Voß

Zwei Männer stehen vor einer eng mit Formeln beschrifteten Tafel. Hinter einer Reihe von Symbolen und Zahlen ist eine Aufschrift „Then a miracle occurs“ zu sehen, gefolgt von weiteren Zahlen und Formeln. Der ältere Mann weist den jüngeren auf diese Stelle hin und sagt: „I think you should be more explizit here in step two.“ An dieses alte Mathe-Cartoon muss man oft nolens volens denken, wenn man auf die Bürgerbeteiligungsexperimente im Internet zurückblickt.

So zum Beispiel auf die Enquetekommission Internet und digitale Gesellschaft, die auf Beschluss vom 14. März 2010 vom Bundestag eingesetzt wurde. Das „bisher einmalige Experiment“, wie es im Schlussbericht vom April 2013 heißt, hatte zum Ziel, „auf dem Feld der Online-Bürgerbeteiligung Neuland zu erschließen“[1]. Insbesondere bei der „starken Einbindung der Öffentlichkeit in die parlamentarischen Abläufe“ sollte die Kommission mit gutem Beispiel vorangehen.

Operationalisiert wurde die Zielvorgabe, indem sich mittels Beteiligungstool „Adhocracy“ die über das Internet registrierten Nutzer abgestimmte Arbeitspapiere der Projektgruppen (Enquete umfasste insgesamt zwölf Gruppen, 17 Mitglieder des Bundestags und 17 Sachverständige), „die zwar bereits intern zwischen den Fraktionen abgestimmt, aber noch nicht von der Kommission insgesamt verabschiedet worden waren“[2], einsehen und kommentieren sowie Vorschläge einreichen konnten.[3] „Diese Veröffentlichung bereits in der Arbeitsphase sollte die Beteiligung der Öffentlichkeit auf Augenhöhe möglich machen“, wurde im Schlussbericht angepriesen. Dabei blieb der Wunsch einiger Kommissionsmitglieder, auch die noch nicht in den Projektgruppen abgestimmten Texte online zu stellen, bei dem Beteiligungsexperiment unberücksichtigt.

Am Beispiel der Projektgruppe Demokratie und Staat sieht man, wie die Bürgerbeteiligung à la Enquete konkret funktionierte. „Im Laufe der Arbeit registrierten sich mehr als 1.000 Bürger als Online-Mitglieder […] und gaben knapp 900 Kommentare ab“, heißt es dort, „[i]nsgesamt 81 Vorschläge wurden von Bürgerinnen und Bürgern eingereicht. […] Die zehn von der registrierten Community am besten bewerteten Vorschläge wurden in zwei Projektgruppensitzungen diskutiert und im Bericht der Projektgruppe im Wortlaut dokumentiert.“[4] Die Sitzungen der Projektgruppen und ihre Entscheidungen fanden ohne die Internetnutzer statt. Sie waren nur gelegentlich von öffentlichem Charakter (teilweise aufgrund fehlender Ressourcen nicht im Internet gestreamt), was für die beteiligten Internetnutzer zwar Transparenz, nicht aber Mitbestimmung bedeutete.

So kam in der Projektgruppe Demokratie und Staat die Entscheidung zustande: „Letztendlich schafften es zwei der zehn Vorschläge, inhaltlich in die Handlungsempfehlungen der Projektgruppe Demokratie und Staat übernommen zu werden.“ Der erste Vorschlag lautete „Mehr Transparenz schaffen durch Open Data“; der zweite betraf die Offenlegung der Jahresabschlüsse von Städten, Gemeinden und Kommunen im Internet. Nicht weiterverfolgt wurde beispielsweise der Vorschlag der Onlinecommunity über das Streaming von öffentlichen Ausschusssitzungen und Anhörungen im Internet. Und „[z]u jedem der zehn [Vorschlägen] gab es eine kurze Stellungnahme und die Rückmeldung, was mit dem Vorschlag geschehen war“.

Demokratie auf Speed?

Kurz nach dem Enqueteexperiment schrieb Hartmut Rosa das Buch Beschleunigung und Entfremdung. Er beobachtete, dass die technologische Beschleunigung in vielen Lebensbereichen ebenfalls zu Beschleunigung führen kann – und zugleich zur Verlangsamung, oder gar zur Stagnation, in anderen Bereichen. Die technologische Beschleunigung, wie sie beispielsweise das Internet verkörpert, scheint tatsächlich die Erwartungen der Individuen, an den demokratischen Prozessen besser und schneller beteiligt zu werden, zu steigern. Aber nicht nur das: „Die moderne westliche Welt hängt in ihrem Selbstverständnis noch immer implizit der Idee an, die Politik bestimme das Tempo der sozialen und kulturellen Entwicklung.“[5] Dies setze nun eine sehr spezifische Verankerung der Politik in der Zeit voraus, schreibt Rosa, „es wird vorausgesetzt, dass die (demokratische) politische Entscheidungsfindung mit der sozioökonomischen und soziokulturellen Entwicklung synchronisiert oder zumindest synchronisierbar ist“[6].

„Natürlich lässt sich auf eine gewisse Weise auch die Demokratie beschleunigen“[7], schreibt Rosa und erinnert an die Habermas’sche Idee der deliberativen Demokratie, die dann Herrschafts- und Wissensansprüche rechtfertige, wenn sie Ergebnis eines herrschaftsfreien Diskurses seien, zu dem alle Argumente und Positionen freien Zugang hätten und der Deliberationsprozess auf der Basis eines „zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“ erfolge[8]. Politischer Zwang lässt sich laut Rosa in der Moderne nur dann rechtfertigen, wenn er aus einem Prozess der Deliberation und Repräsentation, bei dem „nicht nur alle sozialen Gruppen, sondern im Prinzip sogar alle Individuen […] eine Chance haben, Ansprüche und Argumente zu formulieren“[9], resultiert. Mit dem Internet ließen sich die Schritte des Deliberationsprozesses tatsächlich beschleunigen: die relevanten sozialen Gruppen identifizieren, Argumente formulieren und abwiegen, die Einigung erzielen und überlegte Entscheidungen treffen.

Selbst entscheiden oder Entscheidungen vorbereiten?

Die Bürgerbeteiligungsexperimente, wie die Enquetekommission, haben bisher einen Teil des Deliberationsprozesses adressiert, nämlich diesen, bei dem es um die Entscheidungsvorbereitung geht. Doch zu wissen, dass die Entscheidungen ohne mich zustande kommen, ist nicht das Gleiche wie mitzubestimmen. Transparenz wird nur dann zu einer Form der Beteiligung, wenn sie die Möglichkeit einer aktiven Ingerention in den Entscheidungsprozess und in der Einflussnahme impliziert. Sie ist eine Voraussetzung für effektive, direkte Bürgerbeteiligung, kein Ersatz dafür. Oft bewirkt sie genau das Gegenteil: Ein Überangebot an bereitstehenden Informationen sei eine Quelle des Gefühls der Entfremdung in der modernen Welt, schreibt Rosa, „[i]m Normallfall entsteht Entfremdung hier aufgrund der Tatsache, dass wir nie wirklich die Zeit finden, um uns über die Dinge, die wir tun, ausreichend zu informieren“[10].

Dies sollte sich im Fall der Enquetekommission als Hemmschwelle für eine stärkere Bürgerbeteiligung herausstellen. „In der Praxis zeigte sich, dass das Interesse der Bürgerinnen und Bürger gering war, sich intensiv mit den bereits abgestimmten Texten aus der Projektgruppe zu befassen“[11], heißt es im Schlussbericht. In den ersten Tagen meldeten sich gut 1.000 Teilnehmer für das Experiment. Die Zahl stieg bis zum Ende der Enquete auf über 3.250 „und blieb insgesamt hinter den Erwartungen zurück“[12].

Das Internet hatte die Hoffnung geweckt, die Demokratie zu vitalisieren und zu modernisieren. Es wurde als Panaceum gegen die Politikverdrossenheit gehandelt. Gerade die Möglichkeit direkter Beteiligungsformen sollte die Agora-Demokratie, die direkten Beteiligungsformen, wiederbeleben helfen. Eine komplexe Technologie wie das Netz dürfte als Medium zur Einreichung von Vorschlägen zu vorabgestimmten Dokumenten chronisch unterfordert sein. Vielleicht brauchen wir, wie die US-Anwältin Jennifer Granick auf der Konferenz Black Hat 2015 sagte, ein neues Internet.[13] Oder, wie es in alten Mathe-Cartoon hieß, sollten wir bei den künftigen Experimenten, irgendwo zwischen der Information und Entscheidung im demokratischen Deliberationsprozess, etwas genauer werden, wenn es um Bürgerbeteiligung geht?

 

[1] Deutscher Bundestag. 2013. BT-Drs. 17/12550: „Schlussbericht der Enquete-Kommission ‚Internet und digitale Gesellschaft‘“, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/125/1712550.pdf (Zugriff 5.4.2013), S. 8.

[2] Ebd., S. 10.

[3] Ebd., S. 11.

[4] Ebd., S. 15.

[5] Rosa, Hartmut, 2013. Beschleunigung und Entfremdung, Suhrkamp: Berlin, S. 102.

[6] Ebd.

[7] Ebd., S. 81.

[8] Vgl. Ebd., S. 78.

[9] Ebd. S. 79.

[10] Ebd., S. 129.

[11] Deutscher Bundestag. 2013. BT-Drs. 17/12550: „Schlussbericht der Enquete-Kommission ‚Internet und digitale Gesellschaft‘“ (5.4.2013), S. 12.

[12] Ebd., S. 9.

[13] Vgl. Voss, S. 2015. „Der Internet-Traum stirbt“, https://kaffeeringe.de/4382/der-internet-traum-stirbt/, 19.8.2015 (Zugriff: 5.9.2015).

Aleksandra Sowa

Leitete zusammen mit dem deutschen Kryptologen Hans Dobbertin das Horst Görtz Institut für Sicherheit in der Informationstechnik. Dozentin, Fachbuchautorin (u.a. "Management der Informationssicherheit", "IT-Revision, IT-Audit und IT-Compliance"). Im Dietz-Verlag erschienen: "Digital Politics - so verändert das Netz die Politik". Hier äußert sie ihre private Meinung. #Foto by Mark Bollhorst (mark-bollhorst.de)

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