11. Januar 2016
Anonymität/Klarnamenpflicht/Meinungsfreiheit
Meinungsfreiheit braucht Anonymität und keine Klarnamenpflicht
Der bedeutendste Sozialdemokrat der Neuzeit ist den meisten nur unter seinem Aliasnamen bekannt. Kaum jemand kennt den bürgerlichen Namen von Willy Brandt: Herbert Ernst Karl Frahm. Bei Willy Brandt würden wohl Netzwerkbetreiber mit Klarnamenpflicht wie Xing oder Facebook verschärft nachfragen und ihm im Zweifel die Nutzung des Dienstes wegen Verstoßes gegen die Nutzungsbedingungen untersagen. Der Rauswurf von Willy Brandt wäre zweifelsohne ein echter Verlust für den Diskurs auf dem betreffenden Netzwerk. Wenn es nach dem Willen einiger Politiker ginge, müsste man Letzteres hinnehmen, um Hassreden im Internet wirksam abzuwehren.
Zugegeben das Gedankenexperiment hinkt und ist arg spekulativ. Es hilft aber Eines provokant zu verdeutlichen: Die Verwendung von Pseudonymen und die Verschleierung der bürgerlichen Identität mit dem Ziel des Schutzes der eigenen Indentität, aus welchen Gründen auch immer, ist keine Erfindung des Internets oder Sozialer Medien. Eine ganze Reihe von bedeutenden Persönlichkeiten sämtlicher Geschichtsepochen und aus allen Bereichen der Gesellschaft haben Pseudonyme oder Aliasnamen aus redlichen und unredlichen Gründen verwendet. Die Debatte um anonyme Meinungsäußerungen ist somit kein Neuland.
Kritiker des Rechts auf anonyme oder pseudonyme Meinungsäußerung, wie Ralf Stegner, der letzte Woche mit folgenden Worten in den Medien zitiert wird: „Wer an politischen Debatten in der Demokratie teilnimmt, der sollte seinen Namen und sein Gesicht zeigen. Wer das nicht tut, sondern sich hinter ‚Fake-Profilen‘ versteckt, der hat etwas anderes im Sinne“, wenden natürlich ein, dass im heutigen Deutschland niemand seiner Meinung wegen verfolgt werden würde. Mithin könne Jede und Jeder im öffentlich ausgetragenen Meinungskampf das virtuelle Visier hochklappen und den „echten Namen“ verwenden. Die Notwendigkeit, die Willy Brandt zwang über seine Identität zu täuschen, so das Argument, gäbe es heute nicht mehr.
Ganz abgesehen davon, dass letzteres Argument aus dem Mund eines Spitzenpolitikers immer aus einer Position der politischen Stärke und Macht heraus getroffen wird, ist das Thema bei genauerem Hinsehen komplexer als eigentlich gedacht. Scheinbar einfache Antworten entpuppen sich schnell als Rohrkrepierer für den offenen und freien gesellschaftlichen Dialog. Vor allem sollte mit einigen Missverständnissen aufgeräumt werden:
Missverständnis 1: Opfer von ehrverletzenden Äußerungen, Bedrohungen und systematischen digitalen Nachstellungen im Netz sind schutzlos diesem „Shitstorm“ und Stalking ausgeliefert, denn es gäbe keine Möglichkeit der wirksamen Ahndung, weil Täter ihre Identität verschleiern.
Vorab bedarfs es einer inhaltliche Sortierung. Es gibt zwei Arten von „Meinungsäußerungen“. Die eine Art ist strafbar. Dazu zählen z.B. Beleidigungen, Verleumdungen, Üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens, die Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, die Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten, Volksverhetzung oder Anleitung zu Straftaten. Diese können und müssen durch staatliche Strafvollzugsorgane geahndet werden. Das Telemediengesetz sieht zum Zweck der Strafverfolgung ausdrücklich vor, dass Anbieter von Telemedien, die zur Identifizierung derartiger Täter notwendigen Informationen herausgeben dürfen. Dass eine derartige Verfolgung durchaus erfolgreich sein kann, zeigt das von Ralf Stegner selbst veröffentlichte Beispiel des „Chefs einer Versicherung“, der die Grenze des Erlaubten offenbar überschritten hatte und zur Rechenschaft gezogen wurde. Gut so!
Für viele Betroffene sieht die Realität allerdings anders aus. Sie erleben regelmäßig, dass Beleidigungen im Netz nicht geahndet werden. Das liegt jedoch nicht daran, dass die Täter sich hinter Pseudonymen verstecken. Vielmehr sind die Vollzugsbehörden in diesem Bereich technisch und personell chronisch unzureichend ausgestattet. Das betrifft im Übrigen nicht nur die Polizei und Staatsanwaltschaften. Auch andere Stellen wie z.B. die Verbraucherschutzverbände oder Datenschutzbeauftragte schaffen es aufgrund der geringen personellen Ausstattung nicht, Betroffene in ihren Anliegen wirksam zu unterstützen. Dies gilt vor allem für die Fälle, in denen die Schwelle zur Strafbarkeit nicht überschritten wurde, die aber dennoch die persönliche Ehre der Betroffenen verletzt und das Recht auf Löschung nur auf dem (teuren) Zivilrechtsweg z.B. gegenüber den Betreibern sozialer Netzwerke, realisiert werden kann.
Zur ganzen Wahrheit gehört selbstverständlich auch zuzugeben, dass es in einer freiheitlichen und offenen Gesellschaft keinen 100%igen Schutz gegen diese Art der Kriminalität oder Beeinträchtigungen der persönlichen Ehre gibt. Selbst eine Diktatur wäre dazu nicht in der Lage. Anderslautende Behauptungen führen die Öffentlichkeit hinter die virtuelle Fichte.
Wer die Abschaffung der Anonymität im Internet fordert, muss sich zudem die Frage gefallen lassen, wie dann außerhalb des Netzes mit anonymen Hassbotschaften künftig umgangen werden soll. Was tun wir gegen die anonym verfassten Briefe, die Schmierereien an der Hauswand, den einschlägigen Flyern oder Aufklebern an Straßenlaternen? Das ist auch kein Vergleich von Äpfeln (Internet) mit Birnen (Straße). Denn selbstverständlich könnten wir eine flächendeckende Videoüberwachung fordern, mittels derer dann an den öffentlichen „Hotspots der Schmiererei“ Täter dingfest gemacht werden. Wir könnten ja auch fordern, die öffentlich zugänglichen Briefkästen abzuschaffen und die persönliche Registrierung vor dem Versenden eines Postbriefes verlangen. Da regt sich dann doch so etwas wie Unbehagen…
Was nun aber tun gegen die andere Art von Meinungsäußerungen. Die Äußerungen, die ohne Zweifel unsäglich sind aber unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit bleiben und die persönliche Ehre Betroffener nicht verletzen? Wie gehen wir mit den geistigen Brandstiftern um, die die Grenze zur Strafbarkeit (bewußt) nicht überschreiten? Unsere Verfassung gibt da eine eindeutige, wenn auch unbequeme Antwort! Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes legt fest:
„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“
Wohl oder übel müssen wir uns mit diesen Meinungen politisch und im öffentlichen Diskurs auseinandersetzen. Eine Demokratie muss auch unsägliche Meinungen aushalten. Wir sollten Vertrauen in die Selbstreingungskräfte unserer öffentlichen Diskussionen haben. Unserer Gesellschaft ist robuster gegen undemokratische Tendenzen als wir das manchmal meinen. Die Feinde des freiheitlichen Diskurses müssen wir mit den Mitteln bekämpfen, die diese versuchen abzuschaffen. Wir sollten uns dabei allerdings nicht selbst der Freiheit der Meinungsäußerung berauben.
Missverständnis 2: In einem demokratischen Rechtsstaat wie Deutschland wird niemand wegen seiner Meinung verfolgt.
Das stimmt. Noch. Oder vielleicht gerade weil wir das Recht auf anonyme und pseudonyme Nutzung des Internets (§ 13 Absatz 6 Telemediengesetz) haben. Weil dem Staat und seinen Vollzugsorganen die Verfolgung missliebiger Meinungsäußerungen dadurch erschwert wird. Die Anonymität einer Äußerung im Netz zwingt nämlich rein faktisch den Staat zum Abwägen des Einsatzes staatlicher Zwangsmaßnahmen. Er muss prüfen ob es sich lohnt, eine Meinung zum Schutz der von der Meinungsäußerung Betroffenen im Verhältnis zum Recht der sich äußernden Person zu bekämpfen.
Zudem enthält das Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit keine Beschränkung auf das Recht, nur seine Meinung unter dem bürgerlichen Namen veröffentlichen zu dürfen. Nur wenn durch die Äußerungen Rechte Dritter verletzt werden, gelangt die Meinungsfreiheit an eine Schranke. Vorher nicht. Ein prophylaktischer Schutz gegen Hetze durch die Abschreckung der fehlenden Anonymität ist mit unserem Werteverständnis der verfassungsrechtlich geschützten Meinungsäußerung nicht in Einklang zu bringen.
Was würden wir bei der Abschaffung der Anonymität verlieren? Diejenigen, die aus vollkommen legitimen Gründen sich an dem öffentlich geführten Diskurs beteiligen wollen, z.B. der Mitarbeiter der unfaire Arbeitsbedingungen in seinem Unternehmen öffentlich anprangert, Kinder und Jugendliche oder Bürgerinnen und Bürger die sich im Netz gegen Rechtsradikale in ihren Kommunen engagieren und bei Verwendung ihres Klarnamens in das Visier dieser Personen geraten würden, würden mutmaßlich nicht mehr ihre Meinung kundtun. Ganz zu schweigen von der Wirkung die eine solche Abschaffung auf Whistleblower hätte. Denn es braucht nicht unbedingt staatlicher Repression, um jemanden daran zu hindern, sich unter Klarnamen zu äußern. Auch die (befürchtete) Ächtung im beruflichen, gesellschaftlichen oder familiären Umfeld oder existenzielle wirtschaftliche Sanktionen, wie der Verlust des Arbeitsplatzes, können Hinderungsgründe darstellen, die eigne Auffassung öffentlich unter Nennung des Klarnamens kundzutun. Selbst in einem demokratischen Rechtsstaat sind wird vor derartigen Zwangssituationen nicht gefeit. Wenn wir diese Hinweise und Debattenbeiträge nicht verlieren wollen, müssen wir das Recht auf anonyme Meinungsäußerung bewahren und schützen. Der Preis dafür ist, mit unliebsamen Auffassungen konfrontiert zu werden. Wir sollten bereit sein, ihn zu zahlen.
Missverständnis 3: Wenn wir die Anonymität im Netz abschaffen, dann werden die Hasskommentare weniger.
Naja. Das mag sein oder eben auch nicht. Sicherlich werden sich Einige dann zweimal überlegen, ob sie unflätige Bemerkungen veröffentlichen. Aber lösen wir damit das gesellschaftliche Problem, welches dahinter steht? Diejenigen die Hass im Internet säen und damit Zustimmung einer ansonsten schweigenden Minderheit ernten, werden sich durch den Verlust der Anonymität nicht abschrecken lassen. Die „anonym“ öffentlich Zustimmenden hingegen, werden vielleicht ihrer Meinung kein öffentliches Forum mehr geben. Aber ändert sich dadurch ihre innere Haltung? Es wäre schön, wenn es so wäre. Bekanntlich sind die Gedanken jedoch frei und auch stille Billigung ist eine Form der Zustimmung. Unsere gesellschaftlichen Probleme werden wir dadurch jedoch nicht los. Dann ist es besser, wir erkennen die Stimmungslage und können politisch darauf reagieren.
Die praktische Dimension des Problems:
Die Forderung nach der Abschaffung der Anonymität im Internet ist aus technischer Sicht Populismus. Annähernd wirksam wäre ein derartiges Vorgehen nur, wenn jede Internetnutzerin und jeder Internetnutzer vorab registriert werden würde. Das gilt dann aber auch wirklich für Jede und Jeden, Deutsche und in Deutschland lebende Ausländer, Erwachsene und Minderjährige…. Wollen wir das wirklich?
Das Thema Anonymität im Internet ist kein rein netzpolitisches Thema!
Es ist die gesamtgesellschaftlich relevante Diskussion um die Zukunft des freien und ungehinderten Meinungsaustausches und dem staatlichen und gesellschaftlichen Umgang mit unliebsamen Meinungsäußerungen in der digiatalen Gesellschaft die wir hier führen. Sie muss von der Mitte der Gesellschaft heraus diskutiert werden.
Werden wir mit der Abschaffung der relativen Anonymität im Internet tatsächlich relevant und nachhaltig den freien Meinungsaustausch in den sozialen Medien und damit in der Gesellschaft fördern? Werden wir durch die namentliche Registrierung von Internetnutzern ein Klima schaffen, durch welches der Eindruck entsteht, dass wir auch Meinungen tolerieren, die jenseits des politischen oder gesellschaftlichen Mainstreams liegen? Werden wir mit der Pflicht zur Offenlegung der Identität der Nutzerinnen und Nutzern tatsächlich die geistigen Rattenfänger treffen, auf die wir meinen mit einer derartigen Pflicht zu zielen? Fördern wir damit wirklich einen offenen, freien, demokratischen Diskurs in unserer Gesellschaft? Wir sollten uns bei der Beantwortung dieser Fragen an dem von Willy Brandt gesetzten Maßstab orientieren: „Deutsche Sozialdemokraten dürfen Kränkungen der Freiheit nie und nimmer hinnehmen. Im Zweifel für die Freiheit!“
Ein Kommentar
[…] konstitutive Recht auf Anonymität ist für das Papier eher hintergründig (vgl. dazu Debattenbeitrag von Moritz Karg). Lediglich dort, wo es um die Weiterentwicklung der Zweckbindung bei den Daten und […]