28. November 2017
Digitale Agenda/Veranstaltung
Digitalisierung: überholen ohne aufzuholen?
Bürger seien manchmal auch schizo, sagte die ehemalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles am ersten Abend der Konferenz Digitaler Kapitalismus – Revolution oder Hype in Berlin, sie würden sich Datenschutz wünschen und gleichzeitig mit ihren Daten nur so um sich werfen. Blaming the victim? Eine Auffassung, die in der Politik neuerdings recht häufig vorkommt. Unter anderem in der Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland 2016 des Bundesministeriums des Innern (BMI), die gegen die „Sorglosigkeit der Bürgerinnen und Bürger“ mit Bildung und Sensibilisierung vorgehen möchte, um ihnen verantwortungsvolles und risikobewusstes Verhalten mit den (unsicheren) Geräten anzuerziehen. Zuweilen erhält man den Eindruck, der Bürger wäre eine Gefahr für die Sicherheit des Landes. Nicht die Hersteller und Provider, die (unsichere) Software und die Geräte.
„Blaming the victim“ ist kein unique selling point deutscher Politik. Der US-amerikanische Sicherheitsexperte, Bruce Schneier, setzt sich seit Langem für die Nutzung von Technologien ein, die es dem Anwender bspw. ermöglichen würden, E-Mail-Anhänge in einer sichereren Umgebung zu öffnen (und damit zu verhindern, dass sich Malware oder Ransomware auf ihren Geräten ansiedelt), oder dafür, die Nutzung von Passwortmanagern zu vereinfachen, damit man nicht stets Passwörter für alle Geräte ändern muss. Solche Technologien gibt es bereits – sie sind nur nicht verbreitet oder nicht für jedermann erschwinglich. Der Ex-Hacker, Kevin Mitnick, brachte kürzlich ein Buch The Art of Invisibility heraus, in dem er erstmalig nicht darüber schreibt, wie man die Schwachstelle Mensch täuschen kann und sie für Angriffe nutzt, sondern darüber, wie sich der Nutzer gegen die omnipräsente Überwachung wehren kann – indem er seine Daten und seine Privatsphäre schützt. Unkontrollierter Abfluss von Daten und Informationen über die „smarten“ Geräte – und unkontrollierter Zugriff auf diese durch Hersteller, Hacker oder Geheimdienste – ist kein rein deutsches Problem.
Data Collection
Man bräuchte daher eine robustere, ambitioniertere Agenda für die Datenkollektion – und Lösungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene. Privacy-as-a-Service – für ein paar Hundert Euro im Monat kann sie natürlich jeder haben, erklärte Evgeny Morozov auf der Konferenz Digitaler Kapitalismus. Datenschutz ist ein Grundrecht – und persönliche Daten sind kein Wirtschaftsgut. Nicht Privacy-as-a-Service, sondern Privacy-as-a-Right, postulierte deshalb Morozov in Berlin. In Europa, so Morozov, hätte man noch ein paar Jahre Zeit, über die Möglichkeit nachzudenken und die Sachen anders zu regeln als in den USA. „Slow politics“ – wurde es rasch auf Twitter kommentiert (die Konferenz wurde live gestreamt und gebloggt) –, doch wenn es um Regulierung oder Rechtsdurchsetzung geht, kann man es durchaus als einen Vorteil verstehen. „Democracy needs deliberation – and it’s slow“, erklärte später an diesem Tag Paul Nemitz von der Europäischen Kommission.
So steht auch der Aussage von SPD-Netzpolitiker, Lars Klingbeil, Bürger würden sich mehr E-Government wünschen und man möchte nun E-Government vorantreiben, die Auffassung von Evgeny Morozov gegenüber, der in seiner The-Guardian-Kolumne vor den Risiken der Privatisierung öffentlicher Services warnte, die infolge der Digitalisierung entweder ganz an private Firmen vergeben oder teils von ihnen abhängen, indem sie über kommerzielle Software und Apps abgewickelt werden. Und der ausgerechnet diese Politik kritisierte, die, anstelle ambitionierte soziale und politische Zwecke zu verwirklichen, sich der Förderung bestimmter Geschäftsinteressen in ihrer Regulierung widmet.
Mensch und Maschine
In Berlin zeigt Morozov, wie sich heute mit der Technologie die Machtverhältnisse in der Gesellschaft zementieren lassen. Er nannte es „different attitude to machines“ und erläutete es am Beispiel der Economy und Business Class am Flughafen. Der Check-in für die Economy Class sei automatisiert: Entweder stehen die Passagiere vor den Check-in-Automaten und kämpfen sich durch die Abfragefelder durch – oder sie machen schon vorher zu Hause. Für die Business-Class-Passagiere gibt es dagegen einen mit Menschen besetzten Check-in-Schalter, an dem sie einfach und schnell einchecken können. Der automatische Check-in ist zeitaufwendig – aber es ist die Zeit der niedrigpreisigen Passagiere. Nach dem Aussteigen dreht sich der Spieß um: Dann kommen die Business-Class-Passagiere in den Genuss einer automatisierten Pass- oder Ausweiskontrolle und können binnen weniger Minuten den Flughafen verlassen. Für die nichtprivilegierten Passagiere heißt es dagegen: erst mal vor dem (menschlichen) Kontrolleur Schlange stehen. Technologie vereinfacht und beschleunigt die Prozesse. Aber nur für die, die dafür extra zahlen.
Humanismus
Es würde uns heute leichter fallen, sich das Ende der Menschheit vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus, sagte noch am selben Tag Paul Mason. Er hatte nur zwei Folien dabei, warnte er seine Zuhörer. Eigentlich war es nur eine Folie – in zwei Versionen. Das genügte. Im Grunde genommen seien die Regierungen und Privatunternehmen nicht daran interessiert, Automatisierung voranzutreiben, sagte Mason. Man sei eher daran interessiert, prekäre Arbeitsverhältnisse zu schaffen – auch „Bullshit Jobs“ genannt. Und wenn man nach dem langen, inhaltsreichen Tag bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin noch genug Kraft und Konzentration aufbringen konnte, wurde man Zeuge einer zukunftsweisenden Diskussion zwischen Marjolijn Bulk vom Niederländischen Gewerkschaftsbund, Paul Mason, Joachim Schuster (MdEP) und Paul Nemitz. Es gäbe zwei Aspekte des Fortschritts und der Technologie: den ökonomischen, profitgetriebenen – und den nutzerorientierten. Was man nun bräuchte, sei mehr Humanismus. Marx hätte seine Theorie auch als „radikalen Humanismus“ bezeichnet, erklärte Mason. Wir sollten die Automatisierung willkommen heißen, so Mason, gerade wegen der prekären Jobs.
Neue Aspekte, Impulse und alternative Sichtweisen, die die Gesellschaft und Politik dringend braucht. Nach der Konferenz zum digitalen Kapitalismus geht der Politikbetrieb unverändert weiter. Mit der Digitalisierung – und mit E-Government, höchstwahrscheinlich.
Keynote von Evgeny Morozov, Autor und Internetkritiker (Digitaler Kapitalismus der FES 6./7.11.2017, Berlin)
Keynote von Paul Mason, Journalist und Autor (Digitaler Kapitalismus der FES 6./7.11.2017, Berlin)