26. Mai 2017
Meinungsfreiheit
Kognitive Dissonanz. Oder: warum das NetzDG den Sozialdemokraten vermutlich irgendwann um die Ohren fliegt.
- Foto: mkhmarketing - CC BY 2.0
„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“, übersetzte Sören Sören Bartolstellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD, den kantschen kategorischen Imperativ in den Volksmund. Das Internet sei ein Ort des Hasses geworden, tatenlos zuzusehen könne keine Lösung sein. Worauf er auf der Diskussionsveranstaltung der SPD-Fraktion „Hatespeach und Co.“ abzielte, war das Netzdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das bereits am Folgetag im Bundestag in der ersten Lesung beschlossen werden sollte.
Dass man nicht mehr tatenlos zusehen möchte, hörte man an diesem Tag im Fraktionssaal noch mehrmals. Auch wenn der Justizminister, Heiko Maas, in seinem kurzen Referat mit den Mythen rund um das neue Gesetz aufräumte: Nein, soziale Netzwerke werden künftig nicht entscheiden, was gelöscht wird und was nicht – Löschpflichten gelten jetzt schon, man möchte nur sicherstellen, dass sie durchgesetzt werden. Nein, Overblocking drohe nicht – es wird nicht mehr gelöscht als notwendig. Ja, die Unternehmen können sich das leisten – es wird nichts Neues von ihnen verlangt, es steht bereits im Telemediengesetz. Ja, es geht um ein effektives Beschwerdeverfahren – nicht um das Löschen einzelner Tweets. Und dass das NetzDG die Meinungsfreiheit einschränken solle, fände der Minister „ziemlichen Quatsch“. Meinungsfreiheit ende dort, wo das Strafrecht beginnt, und Einträge die gegen Strafgesetze verstoßen, sollten aus dem Netz gelöscht werden. Rechtsbruch, betonte Heiko Maas, sei kein schützenswertes Geschäftsmodell.
Die Diskussion, die dem Referat folgte (ohne Justizminister im Podium) könnte man vermutlich als typisch für das postfaktische Zeitalter bezeichnen. Wäre man nicht am Konsensus oder wenigstens an einem konstruktiven Austausch interessiert.
Doch, das NetzDG verlagere die Entscheidung darüber, was legal ist und was nicht, auf Unternehmen wie Facebook, hieß es aus dem Podium. Nein, das Gesetz in dieser Form löse das vorhandene Problem nicht – die seltensten Inhalte, die vorgelegt wurden, seien klar rechtswidrig. Ja, die Unternehmen seien daran interessiert, mit den Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren – dafür gebe es bei Facebook eine Plattform. Mit der Polizei funktioniere es sehr gut, mit der Justiz noch nicht, man möchte die Anregung mitnehmen. Unternehmen, Interessenverbände, Reporter ohne Grenzen etc.: Man will sich der Verantwortung stellen, man verfolge dasselbe Ziel – und lehne das NetzDG ab.
Das Referat des Justizministers war im Nu vergessen.
Wenn das Produkt nicht den Erwartungen und Werbezusagen entspricht oder wenn Unternehmen durch ihr Verhalten gegen die eigene Corporate Identity verstoßen, dann entsteht beim Kunden das, was man in der Wirtschaft als kognitive Dissonanz bezeichnet. Kognitive Dissonanz ist, wenn zwei zugleich bei einer Person bestehende Kognitionen einander widersprechen oder sich ausschließen. Wenn der Innenminister in der Cyber-Sicherheitsstrategie 2016 den Bürgern „digitale Sorglosigkeit“ vorwirft, während er auf Kooperationen mit und für die Wirtschaft setzt und die CDU mit stets neuen Gesetzen die Überwachung ausbauen möchte, dann ist es zwar schlimm, eventuell demokratiefeindlich und freiheitsberaubend, aber auch eben das, was man von CDU erwartet. Ein ähnlicher Versuch bei den Sozialdemokraten dürfte nicht funktionieren. Ob es nun um die Einschränkung der Meinungsfreiheit, um Overblocking, Privatisierung der Rechtsdurchsetzung geht oder nicht, um die Vorratsdatenspeicherung oder Löschpflichten: Es weicht vom erwarteten Verhalten ab. Mit entsprechenden, insbesondere im Wahlkampf wenig wünschenswerten Effekten: Das Ungleichgewicht zwischen der Vorstellung und dem real Erlebten bewirkt, dass der negative Eindruck noch weiter verstärkt wird. Und: Kognitive Dissonanzen lassen sich nur mit großem Aufwand wieder korrigieren.
Glücklicherweise entwickeln Menschen, die diese Dissonanz erlebt haben, selbst Maßnahmen, um „diesen Spannungszustand aufzuheben, indem eine Umgebung aufgesucht wird, in der sich die Dissonanz verringert oder selektiv Informationen gesucht werden, die die Dissonanz aufheben“, erklärt das Gabler Wirtschaftslexikon. Beispielsweise durch Nichtwahrnehmung oder Leugnen von Informationen oder selektive Beschaffung und Interpretation der die Dissonanz reduzierenden Informationen.
Doch was bezüglich des NetzDG Fakt ist und was nicht, war in dieser Diskussion nicht leicht zu erkennen. Und wenn mancher Diskussionsteilnehmer, noch verwirrter als zuvor, an dem heißen Maiabend den Fraktionssaal verließ, dann vermutlich mit dem Eindruck, dass erstens die Internetkonzerne ganz schön mächtig geworden sind, wenn man schon ein zweites Gesetz zur Durchsetzung eines anderen Gesetzes braucht und soziale Medien einen großen Einfluss auf die Meinungsbildung haben können. Und zweitens, dass die SPD eventuell gerade dabei ist, es sich auch mit ihnen zu verscherzen.
Ein Kommentar
[…] weil das neue Gesetz eine wirklich strenge, neuartige oder smarte Regulierung bedeuten würde. Nach Auffassung des Justizministers sollte das NetzDG lediglich ein effektives Beschwerdemanagement ermöglichen, indem es Plattformen […]