Arbeitskreis Digitale Gesellschaft

SPD Schleswig-Holstein

11. Mai 2018

Buchtipp/Debatten
Der Staat muss seinen digitalen IQ erhöhen

Foto: A Health Blog - CC BY-SA 2.0

„Die wichtigsten Produktionsmittel seien nicht mehr n

ur Maschinen und Fabriken, sondern Daten“, zitierte heise.de Andrea Nahles aus einer Veranstaltung ihrer Partei zum 200. Geburtstag von Karl Marx.[1] „Es lohnt sich, heute den digitalen Kapitalismus und Marx genau in den Blick zu nehmen“, sagte sie. „Nahles schlug vor, zu überlegen, ob beispielsweise die großen Plattformen im Internet ab einer bestimmten Größe ihre Datenmengen mit den Wettbewerbern teilen müssten“, berichtete heise.de, „Die Daten würden somit zu einem Gemeinschaftsgut.“Klingt revolutionär? Ist es auch. Die Idee ist Teil des Konzepts der „progressiven Daten-Sharing-Pflicht“, die Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge in ihrem aktuellen Buch Das Digital vorgeschlagen und beschrieben haben. „SPD-Vorsitzende Nahles ist für unseren Vorschlag zur Datenteilung aus unserem Buch ‚Das Digital‘“, verkündete erfreut @Viktor_MS auf Twitter. Doch die Autoren gehen mit ihrem Konzept deutlich weiter als nur bis zu den nächsten Wahlen, sie wagen sich weit hinaus in die Zukunft. Daten, so die Autoren, seien „nicht das neue Öl, wie oft in windschiefer Metaphorik behauptet, sondern das neue Geld“. Wird das Geld überflüssig und von den Daten ersetzt? Das trifft es noch nicht ganz. Wir sollten uns noch einmal die „Marmorpaläste des Geldes“ anschauen, „die Banktürme in den Finanzzentren der Welt, die eine Botschaft der Macht und des Reichtums vermitteln“[2], raten die Autoren. Denn in zehn Jahren werden die meisten von ihnen verschwunden sein. „Nicht, weil wir das Geld abgeschafft haben, sondern weil die Symbolik nicht mehr passt.“ In den datenreichen Märkten werden die Daten nicht das Geld, sondern gleich das Kapital ersetzen.

Wider die Marktkonzentration

Es gebe auch jetzt „einen sagenhaften Reichtum weniger, beeindruckender, zum Teil weltumspannender Monopole und eine erhebliche Machtkonzentration“, berichtete heise.de aus der Rede von Nahles. Tatsächlich sind die Onlinemärkte besonders anfällig für Konzentrationsprozesse, schreiben Ramge und Mayer-Schönberger, derartige Märkte sind problematisch, weil sie viele Teilnehmer von besseren Geschäften ausschließen und die mächtigsten Akteure Oligopol- oder gar Monopolgewinne abschöpfen können.[3] Doch diese Beobachtung genügt nicht allein, um der Konzentration entgegenzuwirken. Diese wird durch drei Effekte angetrieben, wobei Skalen- und Netzwerkeffekte bereits „ausführlich analysiert und beschrieben“, die Feedbackeffekte dagegen, die im Zeitalter der Daten immer wichtiger werden, von den Behörden bislang nicht ausreichend wahrgenommen wurden.[4] „Jeder der drei Effekte bietet große Vorteile“, schreiben Mayer-Schönberger und Ramge, „Skaleneffekte verringern die Kosten, Netzwerkeffekte erhöhen den Nutzen, und Feedbackeffekte verbessern Produkte.“[5]

Zwar wurde die Marktkonzentration im Onlinebereich von Kartell- und Wettbewerbsbehörden „mit tiefem Misstrauen“ betrachtet, man sah bislang dennoch keinen Grund für die regulatorischen Eingriffe. Aus der Politik waren ab und zu Forderungen zu vernehmen, die Algorithmen, die den Geschäftsmodellen der Techkonzerne und bald den künstlichen Intelligenzen zugrunde liegen, offenzulegen oder mit Anti-Diskriminierungsgesetzen zu regulieren. Doch es seien nicht die Werkzeuge der Oligopolisten und Datenkapitalisten, die offengelegt werden sollten, sind die Autoren überzeugt, sondern sie sollten ihren „Rohstoff zur Nutzung zur Verfügung stellen“[6]. Die progressive Daten-Sharing-Pflicht sei „die Antwort auf die absehbare Marktkonzentration“[7]. Damit könnte auch der Traum der Open-Data-Bewegung wahr werden, wenn auch auf etwas andere Weise, als wir es uns heute vorstellen.[8] „In diesem Modell setzt die Pflicht zum Teilen von Daten ein, sobald ein Unternehmen einen bestimmten Marktanteil erreicht“[9], erklären Mayer-Schönberger und Ramge das Konzept. Geteilt wird dann mit allen Konkurrenten, die es wünschen, nach dem Zufallsprinzip, damit bestimmte Daten nicht „herausgepickt“ werden können. Die Firmen dürfen auch einen Teil ihrer Steuerpflicht oder ihrer Steuerschulden mit Daten begleichen. Viele von ihnen bezahlen heute kaum oder gar keine Steuer, weder in Daten noch in irgendeiner anderen Währung.

Präventive Datenregulierung

Dieses System würde umso stärker der Konzentration entgegenwirken, je mehr die Konzentration zunimmt.[10] Die Pflicht, mit den Konkurrenten den Rohstoff zu teilen, würde die Daten als „Motor von Innovationen breiter verfügbar machen“[11]. So würde eine Vielzahl unterschiedlicher Systeme und Produkte entstehen können – diese Heterogenität schützt besser vor Risiken systemischer Ausfälle oder gar vor Systemversagen. Gerade für die Entwicklung künstlicher Intelligenzen ist Diversität von wesentlicher Bedeutung. Dabei hätte der Nutzer aus einer Vielzahl von Systemen unterschiedlicher Anbieter wählen können. „Die progressive Daten-Sharing-Pflicht könnte der Einstieg in eine neue, präventive Datenregulierung sein“, dessen sind sich die Autoren sicher.

Wenn es um datenreiche Märkte geht – und diese sind, davon sind die beiden Autoren überzeugt, die Märkte der Zukunft –, sei das Entscheidende nicht, „die Dinge schneller zu erledigen, sondern sie grundlegend anders zu machen“. Sie widersetzen sich dem herrschenden Narrativ der Politik und Privatwirtschaft, das rasche Digitalisierung fordert: heute noch, am besten gestern, wie in dem Wahlkampfslogan der FDP: „Digitalisierung first, Bedenken second“, oder dem „Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert“ der Kanzlerin. „Der Staat muss seinen digitalen IQ rasch erhöhen“[12], fordern sie, mit gutem Grund. „Große Vollzugsdefizite, wie wir sie heute in vielen digitalen Feldern kennen, darf es nicht geben“, denn die Umsetzung der Elemente eines regulativen Rahmens des Konzepts der progressiven Daten-Sharing-Pflicht „wird in der Verantwortung staatlicher Behörden“[13] liegen.

Kapitalismus, adieu?

Es ist eines der ersten Konzepte seit Jahren, das klar zwischen betriebswirtschaftlichem Wachstum einzelner Unternehmen und Erfolg einer gesamten Volkswirtschaft unterscheidet, die wiederum mehr ist als nur die Summe der Profitinteressen einzelner Unternehmen. Ein Konzept, das sich nicht an den Quartalszahlen orientiert, sondern das langfristige Wachstum und den Wohlstand der kompletten Gesellschaft zum Ziel hat. Die Regeln für den digitalen Kapitalismus müssten so gestaltet werden, „dass der faszinierende technische Fortschritt auch tatsächlich den Menschen zugutekommt“, zitiert heise.de Andrea Nahles. Sie ist nicht die Erste, die diese Forderung gestellt hat. Stanislaw Lem in Summa Technologiae wie der belgische Technologie-Philosoph Pascal Chabot betonten stets, dass das Ziel des Fortschritts immer der Mensch und seine Umwelt sei. Paul Mason und Evgeny Morozov forderten erst kürzlich auf der Konferenz Digitaler Kapitalismus der Friedrich-Ebert-Stiftung mehr Humanismus. Der Marxismus, erinnerte Paul Mason kürzlich in seinem Beitrag für New Statesman, sei radikaler Humanismus[14].

„… vielleicht [ist] auch die Zeit gekommen, ein historisches Kapitel abzuschließen und die Phase des ‚Kapitalismus‘ offiziell zu beenden, der unsere Marktwirtschaft die letzten Jahrhunderte über geprägt hat“[15], schreiben die Autoren. „Statt Kapital und Firmen erschaffen wir datenreiche Märkte, die Menschen ermächtigen, besser miteinander zu wirtschaften.“[16] In einer Zeit des Datenreichtums werden es die Menschen sein, die den Maschinen den Takt vorgeben – und nicht umgekehrt[17], versprechen Mayer-Schönberger und Ramge.

Der Erfolg der datenreichen Märkte steht und fällt allerdings mit dem Design und den Regeln. Was das Design betrifft, so ist seine wichtigste Prämisse, Marktkonzentration zu vermeiden. Die Regeln bzw. die Regulierung – aber auch der Vollzug und die Kontrolle der Umsetzung – sind dann Sache der Regulierer. Hier ist die Politik gefragt. Das Erhöhen ihres „digitalen IQ“ könnte sie beispielsweise mit der Lektüre dieses Buches beginnen.

Thomas Ramge, Viktor Mayer-Schönberger (2017) Das Digital, Econ Verlag, 304 Seiten, 25,00 €

[1] Heise.de. 2018. „Nahles sieht ‚Digitalkapitalismus‘ als Herausforderung der SPD“, 5.5.2018, https://www.heise.de/newsticker/meldung/Nahles-sieht-Digitalkapitalismus-als-Herausforderung-der-SPD-4042852.html, [2] Mayer-Schönberger, V. und Ramge, T. 2017. Das Digital. Erlin: Econ Verlag, S. 256. [3] Ebenda, S. 187. [4] Ebenda, S. 193. [5] Ebenda, S. 190. [6] Ebenda, S. 195. [7] Ebenda, S. 200. [8] Ebenda, S. 236. [9] Ebenda, S. 194. [10] Ebenda, S. 169. [11] Ebenda, S. 196. [12] Ebenda, S. 205. [13] Ebenda. [14] Mason, P. 2018. „Why Marx is more relevant than ever in the age of automation”, in: New Statesman, 7.5.2018, https://www.newstatesman.com/culture/2018/05/why-marx-more-relevant-ever-age-automation. [15] Mayer-Schönberger, V. und Ramge, T., S. 256. [16] Ebenda, S. 257. [17] Ebenda, S. 259.

Aleksandra Sowa

Leitete zusammen mit dem deutschen Kryptologen Hans Dobbertin das Horst Görtz Institut für Sicherheit in der Informationstechnik. Dozentin, Fachbuchautorin (u.a. "Management der Informationssicherheit", "IT-Revision, IT-Audit und IT-Compliance"). Im Dietz-Verlag erschienen: "Digital Politics - so verändert das Netz die Politik". Hier äußert sie ihre private Meinung. #Foto by Mark Bollhorst (mark-bollhorst.de)

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