22. Dezember 2023
Bundespolitik/SPD
„Das geht mir nicht weit genug“
- Willy Brandt Haus in Berlin. Sitz des SPD-Parteivorstands | Foto: Steffen Voß, Himmel: GIMP
Das Jahr 2023 ist nicht nur ein Jahr, in dem das für 2025 geplante Solare Maximum vorgezogen werden musste. Der elfjährige Sonnenzyklus sollte früher als erwartet bereits Ende des Jahres 2023 vollzogen sein. Dies hat, neben den effektvollen Polarlichtern, auch ein paar weniger harmlose Effekte: Sonnenstürme können zu Störungen oder Ausfällen von sensiblem Funk- und Elektronikequipment führen. Auch Beeinträchtigungen des Satellitennavigationssystems GPS seien möglich, warnen Experten.
Das Jahr 2023 ist auch ein Jahr zahlreicher Jubiläen. So feierte die Grundwertekommission der SPD ihr 50-jähriges Bestehen. Im September jährte sich des Weiteren das südamerikanische 9/11 – das Ende des demokratischen Sozialismus von Präsident Salvador Allende in Chile – ebenfalls zum 50. Mal. An das Attentat auf den US-Präsidenten J. F. Kennedy wurde 2023 zum 60. Mal erinnert. Das gilt auch für den Tod des Philosophen und Autors von Brave New World, Aldous Huxley, der offenbar zufällig den selben Tag für seinen (Frei-)Tod wählte.
Zum 50. Jubiläum der Grundwertekommission in Berlin, die am 22. November 2023 in der Parteizentrale der SPD mit dem Vortrag von Susan Neiman zur Nahostpolitik und anschließender Diskussion mit u. a. dem Generalsekretär der SPD, Kevin Kühnert, geehrt wurde, gab es gleich drei runde Geburtstage zu feiern: einmal der der Vorsitzenden der Grundwertekommission, Gesine Schwan, sowie die der zwei ehemaligen Vorsitzenden, Thomas Meyer und Wolfgang Thierse. Alle drei wurden in diesem Jahr 80. Zu dem Anlass gab es nicht nur eine Rede von Wolfgang Schroeder oder Blumen. Die Jubilare haben ihre Jubiläen mit neuen, teils autobiografischen Büchern gefeiert: Gesine Schwan mit Warum ich die Hoffnung nicht aufgebe und mit einem Gespräch zwischen Klaus-Jürgen Scherer, Wolfgang Schroeder mit Wolfgang Thierse und Thomas Meyer: Soziale Demokratie als Überlebenspolitik.
Dem zweiten Buch wollen wir hier ein paar Zeilen widmen. Nicht deswegen, weil es von Internet oder Digitalisierung handelt. Ganz im Gegenteil: Beide Begriffe sind in dem Buch vermutlich noch seltener gefallen als in der Rede des Kanzlers auf dem Bundesparteitag der SPD im Dezember 2023: Einmal als es um die Rolle der Medien in der Demokratie und um die nun mögliche Flucht in „die Echokammern der eigenen Vorurteile“ geht – und dann noch im Kontext des Konflikts zwischen „Kommunitären“ und „Globalisten“, den Profiteuren der Globalisierung, die neben mehreren Sprachen auch das Internet beherrschen.
Der Kontext ist nicht nur negativ. Richtig positiv ist er aber auch nicht – es ist eine pragmatische und nüchterne Bewertung der Rolle des Internets, die heute weit entfernt davon liegt, was Pioniere des weltweiten Netzwerks an politischen Einfluss und Aktivierung der Parteibasis ursprünglich herbeifantasiert haben. Thomas Meyer und Wolfgang Thierse sprechen deswegen über Themen und Lösungsansätze dort, wo das Internet nicht die gewünschte Revolution gebracht hat: für demokratische Medien und politische Kommunikation, Integration oder politische Partizipation.
Was die politische Kommunikation betrifft, so sehen Meyer und Thierse aktuell noch viel Luft nach oben: Sowohl in der Top-down-Kommunikation der Politik an Bürgerinnen und Bürger als auch in der direkten horizontalen Kommunikation. So sagt Wolfang Thierse auch zu einem sehr aktuellen Thema: „Wir können die Auseinandersetzung mit der AfD nicht als Kommunikation zwischen den vertikalen Polen führen: die empörten, wütenden, verängstigten, zornigen Bürger gegen ‚die Politik‘.“ Deshalb sei „die eigentliche kommunikative Aufgabe die von Nachbar zu Nachbar, von Familienmitglied zu Familienmitglied, von Gemeindemitglied zu Gemeindemitglied, von Gewerkschaftsmitglied zu Arbeitskollegen und so weiter. Von „gleich zu gleich“ also. Die Verteidigung der Demokratie, so Thierse, sei „eine eminent zivilgesellschaftliche Aufgabe, die man nicht an die Politik delegieren kann“.
Nicht alles sollte der Regierung überlassen werden, so Thierse. Sei das Expertenwissen nicht genügend repräsentiert, „muss eine Partei sich dies heranholen“. „Dazu gibt es die Grundwertekommission, das Kulturforum, andere Foren und Kommissionen, andere Organisationsformen.“ Thomas Meyer hat bei alldem „nicht den Eindruck, dass es große und weitgehende Überlegungen gibt, die Kommunikationsfähigkeit zu verbessern“ – „[o]hne alles was in der SPD im Einzelnen stattfindet zu überblicken“, betont er. „Die eigene Politik glaubhaft zu begründen, die Leute mitzunehmen und das in der Kommunikation mit dem zu verbinden, was daraus künftig entstehen soll, das ist stark unterbelichtet.“ Es müsse deutlicher werden, „wo die sozialdemokratischen Themen und Akzente geblieben sind“, fordert Wolfgang Thierse mit Blick auf die Ampelkoalition.
Auch was die Rolle der politischen Bildung betrifft, ist Thomas Meyer, der jahrzehntelang in der politischen Bildung tätig war, skeptisch. Insbesondere auch dort, wo es um die Wahrnehmung der Repräsentation geht: „Repräsentation heißt nicht, dass alle Interessen auch angemessen befriedigt werden. Es ist eine der populärsten Fehldefinitionen von Demokratie, dass sie nur dann als Demokratie funktioniere, wenn meine Interessen voll berücksichtigt und angemessen befriedigt sind.“ So sei die Entstehung neuer Parteien meist ein Indiz dafür, dass in der Wahrnehmung größerer Teile der Gesellschaft die Repräsentation nicht funktioniert. „[D]a gibt es die Illusion, man könnte durch politische Bildung das alles erklären und dann würde schon begriffen, wie komplex alles ist. So funktioniert das aber nicht“, erklärt Meyer, „[n]ormalerweise wird einfach am Ergebnis gemessen, wann kommt denn endlich mein Interesse wirklich vor.“
Was gegen diese „höchst verbreitete konsumistische Einstellung zur Demokratie und zur Politik“, wie Wolfgang Thierse es nennt, tun? „Mitglied einer Partei, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden, ist kein großer Aufwand. Also Mitglied einer Organisation, die die Interessen und Meinungen vertritt, bündelt, zur Geltung bringt“, antwortet er sogleich. Sehr einfach, so Meyer, darf man sich das Ganze aber auch nicht vorstellen: „Damit du in einer Partei überhaupt zur Geltung kommst, musst du laufend hingehen, musst du auch an Sitzungen teilnehmen, musst du dich engagieren. Das ist dann schon so wie ein kleiner Teilzeitjob. Wenn du ein aktives Parteimitglied werden willst, das Einfluss hat, dann hast du einen Nebenjob.“ Wenn man erreichen möchte, dass eigene Wünsche und Interessen durch kollektiven Aufwand zur Geltung kommen, kostet das nicht nur Überzeugung, sondern eben auch Zeit und Arbeit. Als Bürger sei man auch darauf angewiesen, dass „sein eigenes Engagement zusammenfällt mit dem vieler anderer und eine gemeinschaftliche Stoßrichtung entsteht, sodass eine Wirkung wahrscheinlich wird“. Nicht zu unterschätzen ist: „Der Aufwand, den ein einzelner Bürger mit wenigen Ressourcen hat, um dafür zu sorgen, dass sein eigenes Interesse am Ende irgendwie zählt, ist wesentlich größer und anspruchsvoller als bei einem einzelnen Unternehmer“, betrachtet nüchtern Meyer. „Bei dem reicht es letzten Endes, wenn er seinen Beitrag an den Bundesverband der Unternehmer überweist. Dann sorgen hervorragende Lobbyisten dafür, dass das meiste umgesetzt wird.“ Die Durchsetzungsfähigkeit ist eben asymmetrisch.
Die Möglichkeit alleine, den eigenen Willen zu artikulieren und/oder sich mit anderen zu verbünden, um für Mehrheiten zu werben, geht Thomas Meyer nicht weit genug: „Wenn ich meinen Willen permanent artikulieren kann und er wird nie berücksichtigt, dann revoltiert das Volk, wird dies nicht akzeptieren“, warnt er, „[e]s muss dann entweder durch einen Wechsel der Parteien oder durch eine Verstärkung der eigenen Sache gewährleistet sein, dass am Ende meine wesentlichen Interessen auch einmal politisch aufgegriffen werden.“ Eine Anregung an politische Parteien, ihre Prozesse und Beteiligungsformen umzukrempeln und für mehr direkte Partizipation zu sorgen? Was heute klar sein dürfte: Zu digitalisieren alleine reicht dafür nicht.
Kaum ein anderes Thema hat auf dem Bundesparteitag der SPD mehr Platz eingenommen als die Zuwanderung, Integration, Abschiebung – ja sogar die Seenotrettung wurde thematisiert. Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Rede erklärt, was er unter Integration versteht: dass es bspw. nach erfolgreicher Einbürgerung Einbürgerungsfeiern gibt, zu denen man schick gekleidet erscheint und am Ende die deutsche Nationalhymne singt. Von der SPD erwartet Thomas Meyer, dass sie „eine klare, plausible gerechte Lösung“ hervorbringt. Pragmatisch regt er an, zuerst die Begriffe zu klären: „[…] wer ist Asylbewerber, wer ist Migrant, wer ist Arbeitssuchender, wer wird eingeladen als Fachkraft, die wir hier brauchen. Mit diesen Gruppen muss unterschiedlich umgegangen werden.“ Viele Asylbewerber würden aus Ländern kommen, „wo es in zwei Jahren wieder ganz anders aussieht“, dafür wäre eine „vorübergehende Aufenthaltsberechtigung“ denkbar. „Wer bleiben darf, muss von Anfang an integriert werden“, so Meyer.
Eine Diskussion dazu konnte in den letzten Jahren in der Grundwertekommission nie stattfinden, bedauert Thomas Meyer. Das könnte sich aber ändern, so Thierse: „Das Gespräch wird abgewehrt, und der Sozialdemokratie gelingt es nicht, weil sie sich so moralisch unter Druck wähnt, sich dazu zu äußern. Vielleicht kann jetzt die Grundwertekommission nochmal einen neuen Versuch starten, sich gewissermaßen in die Nesseln zu setzen, das wäre wirklich verdienstvoll.“
Neben der von Thomas Meyer geforderten Notwendigkeit der Entwirrung der Begriffe, mit denen bisher die unterschiedlichen Gründe der Migration „ständig durcheinandergebracht“ werden, schlägt Wolfgang Thierse auch Antworten auf die Fragen „Was verlangen wir von der bisher heimischen Gesellschaft? Und was dürfen wir von denen, die zu uns kommen, verlangen?“ vor. Nein, es ist nicht der kürzlich vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz zum Teil deutscher Leitkultur hochstilisierte Weihnachtsbaum. „[D]as elementarste Gemeinsame ist, dass wir miteinander kommunizieren können“, erklärt Wolfgang Thierse, „und das heißt, die gemeinsame Sprache ist Deutsch.“
Als er als Bundestagspräsident sagte: „Wir sollten doch wie andere Länder auch unsere Sprache in die Verfassung aufnehmen“, wurde er „sofort als Nationalist und Rassist verdächtigt“, erinnert er sich. Deswegen sei eine offene Diskussion so wichtig. Das wünscht sich auch Thomas Meyer, „dass die SPD ein paar dieser neuen Fragen, die durch die Globalisierung entstanden sind, offener und unverkrampfter behandeln würde und sich ganz klar auch profiliert als die Partei derjenigen, mit denen man das alles diskutieren kann.“
Soziale Demokratie als Überlebenspolitik. Wolfgang Thierse und Thomas Meyer im Gespräch über die politischen Zeitläufe, herausgegeben von Klaus-Jürgen Scherer und Wolfgang Schroeder, erschienen im Schüren Verlag, 2023