25. März 2017
#DigitalLeben/Debatten
Alle reden vom Wetter
- Von Menschen und von Daten | Foto: pixabay.com
Muss man wissen, wer unter dem Regenschirm geht, um Regen vorherzusagen?
„Alle reden vom Wetter. Wir nicht“ – dieser Slogan stand auf dem wohl berühmtesten Plakat des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) aus dem Jahr 1968. Vor stylishem roten Hintergrund waren die Konterfeis von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin zu sehen – „hing damals in jeder linken WG an der Wand“, schrieb Der Tagesspiegel. Allerdings war der Slogan ein Plagiat: Der Wetterspruch wurde ursprünglich zwei Jahre zuvor für eine viel beachtete Werbekampagne der Deutschen Bundesbahn erdacht.
Über das Wetter zu schreiben bleibt dennoch ein Trend: Für sein aktuelles Buch, Nabokov’s Favorite Word Is Mauve, berechnete Ben Blatt, dass fast die Hälfte aller Bucheröffnungen bei Danielle Steel vom Wetter handelt. 17 % der ersten Buchsätze bei Stephen King und 15 % bei Tom Clancy ebenfalls. Bei Charles Dickens sollen es 10 % gewesen sein, bei Agatha Christie 5 %. Gleichwohl lautet die erste Regel in Elmore Leonards wegweisendem Werk 10 Rules of Writing: „Never open a book with weather“ (beginne ein Buch nie mit dem Wetter).
Digital Humanitys heißt diese neue Disziplin, die Literatur in Zahlen fasst. Früher führte man die Datenanalysen aufwendig mit Papier und Schere durch – heute ist sie dank Technologie fast vollständig automatisiert. Wenn man die richtigen Fragen zu stellen weiß.
„Eine Debatte über das sozialdemokratische Datenzeitalter“
„Wir nutzen Daten schon lange, um unsere Welt besser zu verstehen“, konstatieren die Autoren der Grundsätze für das sozialdemokratische Datenzeitalter – Einem Positionspapier des „Forums Netzpolitik“ der SPD Berlin.
„Künftig werden wir uns dem Einfluss der Daten und ihrer Auswertung nicht mehr entziehen können. Umso wichtiger ist es, dass die Sozialdemokratie endlich anfängt zu verstehen, welche Umbrüche sich derzeit vollziehen.“ Die Möglichkeiten der Datengenerierung und -nutzung würden noch ungeahnte Chancen für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt bergen, kritisieren sie und warnen: „Wenn wir die bestehende Regulierung in Teilen nicht auf den Prüfstand stellen, riskieren wir, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung großen internationalen Konzernen zu überlassen; wenn wir neue Risiken nicht mitdenken und frühzeitig regulieren, riskieren wir Deutschland dem Turbokapitalismus preiszugeben.“
Daraus ergeben sich für die Autoren folgende Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen:
- Wer kontrolliert meine Daten?
- Unter welchen Bedingungen habe ich Zugang zu Informationen und gesellschaftlicher Teilhabe in Zeiten zunehmender Digitalisierung des Lebens?
Dreh‐ und Angelpunkt sei für die Autoren eine „moderne Datenpolitik“. Deswegen ist das Ziel des Papiers, „die notwendigen Korrekturen bei der weiteren Entwicklung der digitalen (Netz‐)Welt anzustoßen“. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit – aber mit der Hoffnung darauf, eine breite „Debatte über das sozialdemokratische Datenzeitalter“ zu initiieren.
Ein kurzer Ausflug in die Digital Humanitys sei an dieser Stelle erlaubt. Der Begriff „Wirtschaft“ taucht in dem Paper gleich zehnmal auf, hauptsächlich im Zusammenhang mit Formulierungen wie „wirtschaftlicher Fortschritt“ und „wirtschaftliche Entwicklung“. „Unternehmen“ kommt auf 19 Nennungen, „Staat“ und „staatlich“ auf immerhin elf.
„Bürger“ werden ganze drei Mal in dem zwölf Seiten zählenden Papier erwähnt. Sieben Grundsätze wurden darin formuliert, von Nutzungshoheit für die Daten bis hin zu Open Data. Alles Forderungen, die als Prinzipien definiert und um Lösungsvorschläge ergänzt wurden, für die es allerdings auch gilt, ergänzen die Autoren, „konzeptionelle und technische Umsetzungswege zu finden“.
Prinzipien wie Lösungswege befassen sich mit ausgewählten Aspekten und Prinzipien der Datenpolitik und des Datenschutzes. So zum Beispiel mit dem Grundsatz der Datensparsamkeit: „Der Grundsatz der reinen Datenvermeidung ist für uns überholt“, schreiben die Autoren. „Anstatt an einer Regelung des 20. Jahrhunderts festzuhalten und damit immer wieder zu scheitern, muss sich die Politik den neuen Gegebenheiten anpassen.“
Die Selbstbestimmung über eigene Daten sei „notwendiger denn je“ und die bevorzugte Alternative zur Datenvermeidung. Wie soll der Nutzer die Entscheidungshoheit über die Verwendung (aber nicht die Erfassung) seiner Daten behalten? Mithilfe der „Transparenz“, und zwar der „wirklichen Transparenz“: „Die Unternehmen müssen verpflichtet werden, den Nutzer*innen eine Rückmeldung zu geben, welche Daten erhoben werden und was sie mit diesen machen.“ Verständlich und für alle Unternehmen verbindlich. „Wir begrüßen, dass die EU‐Datenschutzgrundverordnung genau diesen Weg beschreitet“, ergänzen die Autoren.
Transparenz spielt übrigens gleich an mehreren Stellen des Papiers eine wichtige Rolle, u. a. in der Kategorie „Lösungsweg“:
- Im Grundsatz 4, bei dem es darum geht, soziale Diskriminierung durch Algorithmen zu verhindern: „Wir brauchen eine hohe Transparenz bei Vorhersagen, konkret: auf welchen Annahmen beruhen diese und welche Daten wurden hierzu benutzt? Denn erst diese Transparenz liefert uns auch die Möglichkeit der Widerlegbarkeit von Handlungsvorhersagen.“
- Im Grundsatz 5, wo es um die Erhöhung des Wissens über die Daten und Stärkung der Medienkompetenz geht:
- „[…] Außerdem müssen Unternehmen in die Pflicht genommen werden, die Transparenz im Umgang mit Daten zu erhöhen, um den Nutzer*innen entgegenzukommen.“
- Im Grundsatz 7, in dem Open Data Love gefördert wird, da diese „zu einem guten und transparenten Regieren dazu“gehört. „Die digitalen „Schätze“ des öffentlichen Sektors müssen gehoben werden und zu einer Verbesserung der Gesellschaft mit beitragen“, schreiben die Autoren und fordern sogleich „die Ausstattung der Behörden mit Personal und Expertise zur Veröffentlichung der Daten“ sowie „die verpflichtende Einrichtung einer Open‐Data‐Stelle in jedem Ressort“.
- Und die bereits oben erwähnte „wirkliche Transparenz“, die der Zurückerlangung der Nutzungshoheit über Daten (Grundsatz 1) dienen sollte.
Das in demokratischen Gesellschaften konstitutive Recht auf Anonymität ist für das Papier eher hintergründig (vgl. dazu Debattenbeitrag von Moritz Karg). Lediglich dort, wo es um die Weiterentwicklung der Zweckbindung bei den Daten und die Chancen der Big‐Data‐Analysen geht, bemängeln die Autoren: „Es ist bislang rechtlich unklar, ob eine Pseudonymisierung zu deren Verarbeitung berechtigen würde.“
„In den vergangenen Jahren haben wir die Sicherheits‐ und Überwachungsgesetze immer weiter verschärft“, kritisieren die Autoren u. a. auch die Gesetzgebung zur Vorratsdatenspeicherung. „Die Eingriffs‐ und Überwachungsmöglichkeiten des Staates wurden immer weiter ausgebaut – mit zweifelhaftem Erfolg für unsere Sicherheit.“ Sie stellen deswegen grundsätzlich infrage, ob mehr Daten und mehr Überwachung wirklich zu mehr Sicherheit führen.
Bei den Lösungen sei man „nicht dogmatisch“: „Wo es einen wirklichen Verdacht gibt, soll es auch möglich sein, eine/n Verdächtige*n zu überwachen.“ Man würde sich „gegen jegliche Form der verdachtsunabhängigen Überwachung einsetzen“, wobei sich hier der Vergleich mit Artikel 4, Absatz 3, der Digitalen Charta aufdrängt, in dem festgelegt wird, dass „anlasslose“ Massenüberwachung nicht stattfindet, demnach jede „anlassbezogene“ Massenüberwachung eventuell erlaubt und auch sonstige Überwachung – mit Ausnahme der Massenvariante – nicht ausgeschlossen sei, denn der o. g. Artikel schließt explizit nur die Massenüberwachung aus.
Die Autoren lassen keine Zweifel zu, dass ihnen der Fortschritt wichtig ist, und zwar der wirtschaftliche Fortschritt. „Moderne und künftig absehbare Möglichkeiten zur Datengenerierung und ‐nutzung […] können […] zum Beispiel dazu beitragen, Krebs dauerhaft zu besiegen, im Bereich der Mobilität können Verkehrsstaus minimiert werden und im Bereich der Energie können sie zur effizienten Stromverteilung und zum ‐management beitragen.“
Um den Risiken der Manipulation, der Diskriminierung und der Schaffung neuer sozialer Ungleichheit entgegenzuwirken, wurden nun die sieben Prinzipien der Datenpolitik entwickelt. Wesentlicher Kritikpunkt: Fortschritt wäre die Nutzung von Megadaten ohne Zuordnung zum Individuum. Zum Beispiel in der Verkehrssteuerung. Damit ein Auto von A nach B kommt, muss man nicht unbedingt wissen, wer hinter dem Steuer sitzt, kritisieren die Experten. Und deswegen heißt der neue Trend aus Silicon-Valley: KEINE Daten sammeln.
Um die Bedürfnisse der Kunden nach mehr Privatheit und Datenschutz zu befriedigen, werden von der Wirtschaft Methoden und Werkezeuge entwickelt, die eine anonyme Verarbeitung von Daten ermöglichen bzw. diese von der Person des Betroffenen vollständig entkoppeln. Diese Methoden heißen differenzielle Privatheit, Verschlüsselung oder ephemere Sicherheit. Sie werden von Unternehmen wie Microsoft, Apple oder SnapChat entwickelt.
„Die Idee vom Wirtschaftswachstum stellen wir über die Idee der Grundrechte, der Menschen und der Sozialen Marktwirtschaft“, sagte kürzlich die Unternehmerin und Bestsellerautorin Yvonne Hofstetter im Interview mit der Bundeszentrale für Politische Bildung und wies darauf hin, dass es sehr schöne Anwendungsgebiete für Big Data und Künstliche Intelligenz gibt, wo sie die Rechte der Menschen überhaupt nicht tangieren.
Während die US-Unternehmen bereits an Geschäftsmodellen arbeiten, die einen angemessenen Schutz für private Daten ihrer Kunden gewährleisten sollten, hält man in Deutschland an der nun nicht mehr ganz aktuellen Idee der „Daten als Rohstoff der Zukunft“ fest, die die Grundlage für die zukünftigen Geschäftsmodelle deutscher Unternehmen bilden sollte.
Datenschutz und Sicherheit als Wettbewerbsvorteil auszubauen könnte dem wirtschaftlichen Wachstum möglicherweise sogar mehr zuträglich sein – und wirklicher Fortschritt wäre die Nutzung von Daten ohne Zuordnung zu einer Person. Wie könnten die Leitlinien für den Umgang mit Daten in einer sozialen Marktwirtschaft lauten? Ein Zusammenhang, in dem übrigens das Wort „Wirtschaft“ in dem Papier kein einziges Mal verwendet wurde. Es wäre tatsächlich schade, wenn sich künftig mit dieser Frage nur noch Unternehmen und Unternehmer befassen würden.
Zum Thema Innovation und Datenschutz gilt derzeit in der SPD der Bundesparteitagbeschluss #DigitalLeben. Doch auch ein Parteitagsbeschluss hat nur solange Gültigkeit, bis etwas anderes beschlossen wird.
Ein Kommentar
„Die Idee vom Wirtschaftswachstum stellen wir über die Idee der Grundrechte, der Menschen und der Sozialen Marktwirtschaft“ (Hofstetter). Richtig!
Doch wer ist WIR? Man sollte dieses WIR auch auf diesen Seiten korrekt, und zur klaren Zuordnung der politischen Verantwortung(slosigkeit), durch „Sozialdemokraten“ ersetzen.
Der „neue Trend“, nicht maßlos individuelle Daten zu sammeln, wird von der ehemaligen Datenschutzpartei SPD der Simitis, Bäumlers, Garstkas, Büllesbachs etc. etc. in einem weiteren Schritt sinnlos aufgegeben und vermeintlichen Wirtschaftsinteressen geopfert.
Dafür muss jetzt u. a., neben den lächerlichen Verkehrs- und Strombeispielen, nun noch Krebs herhalten. Sagt die Partei, die sich gleichzeitig weigert, ein (medizinisches) Forschungsgeheimnis in den Datenschutz zu schreiben.
Irgendeines populistischen Unfugs bedarf es offensichtlich immer, Datenschutz zu bekämpfen. Jetzt eben auch noch der „Sieg über den Krebs“, wenn innere Sicherheit etc. etc. offensichtlich nicht mehr genügend Stoff zum Abbau der Bürgerrechte und jeglichen Rechts auf informationelle Selbstbestimmung hergeben.
Es gibt keine Daten zu Krebserkrankungen, die nicht heute schon sinnvoll genutzt werden könnten und natürlich, unter Wahrung des Datenschutzes, bisher auch werden.
Grotesk, dass parallel die Datensammelei von Facebook & Co bejammert werden.
Ja, liebe SPD: Wie hätten wir’s den gerne? Datensammelei durch Facebook ist böse, beim „Rest“ der Wirtschaft bejubeln wir diesen „Fortschritt“?
Bei der völlig widersprüchlichen und orientierungslosen „Datenschutz“politik der heutigen SPD gilt der alte Satz:
Man nicht so viel essen, wie man k…… könnte.
Jörg Tauss, MdB (SPD) von 1994 – 2009