16. November 2020
Buchtipp
Mut zu mehr Fantasie
„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, diese Worte, die der ehemalige Kanzler Helmut Schmidt über Willy Brandts Visionen zum Bundestagswahlkampf in DER SPIEGEL (1980) veröffentlichen ließ, scheinen heute immer noch das ambivalente Verhältnis zwischen Sozialdemokratie bzw. Arbeiterbewegung und Utopien zu prägen. „Utopie“ sei ein riskantes Wort, schreiben Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in Utopien. Für ein besseres Morgen. Angefangen bei Karl Marx und Friedrich Engels über Ferdinand Lassalle bis hin zu August Bebel analysieren sie die Geschichte der „Phantasterei“ und stellen fest, dass keiner von den eben genannten (sozialistischer) „Utopist“ sein wollte. Und doch bräuchte eine „emanzipatorische Bewegung“, wie die Sozialdemokratie eine sei, „sowohl den kritischen Blick auf die Realität als auch utopische Fluchtpunkte, die ihr Handeln leiten“[1]. Ihre Stärke sei gerade „die Verbindung von Utopie und Pragmatismus“, die einer Utopie keinen Wert beimisst, solange sie sich nicht realisieren lässt. Utopien seien nicht nur deswegen verdächtigt, weil sie Fantastereien bleiben, sondern auch, weil sie „missbraucht und in Dystopien verwandelt werden“ könnten. Ob Digitalisierung, Automatisierung, Ausstieg aus der Kernkraft oder der Kohle – man solle sich weder vom „Heilversprechen der kommerziellen Internetapostel“ blenden noch „von Untergangspropheten in Apathie treiben lassen“[2]. Ist vielleicht Solidarität Mittel zum Zweck, mit dem der soziale Fortschritt erreicht werden kann? Die entscheidende Frage, so die Autoren, sei, „ob und wie es der Sozialdemokratie gelingen kann, ihr Fortschrittsversprechen zu erneuern, und an welchen utopischen Fluchtpunkten sich ihre Reformpolitik orientieren kann“[3].
Manchester 2080
Utopie sei also etwas Positives, konzediert Robert Misik, „Aber, halt! Stimmt das denn so?“[4] Realistisch könne man unsere Welt nur dann voranbringen, wenn man radikale und ambitionierte Ziele verfolgt. Wie in Paul Masons Vision von Manchester im Jahre 2080 – im Kapitel „Jenseits von Kohlendioxid und Kapitalismus“. Die meisten Menschen „arbeiten“ dann nur zwei oder drei Tage pro Woche, „und wie heute ist die Arbeit eine Mischung aus Arbeit und Freizeit“[5]. Medizin, Bildung bis zum Hochschulabschluss und öffentlicher Nahverkehr seien kostenlos, „[d]ie durchschnittliche Miete liegt bei etwa fünf Prozent des Durchschnittseinkommens …, dasselbe gilt für den Zinssatz für Immobiliendarlehen“[6]. Eine Welt, die gezwungen sei, sich einen Kapitalismus ohne Emissionen vorzustellen, komme auch nicht umhin, „sich eine Wirtschaft ohne zwingende Lohnarbeit vorzustellen“[7]. Die Wende wird kommen, da ist sich Paul Mason sicher, allerdings nur, „wenn wir die Fantasie dafür aufbringen“[8].
Ambitionierte Ziele ließen sich mit kleinen Schritten erreichen, so Misik, wie mehr kommunalen Wohnungsbau und durch „rigide Regulierungen von Mietpreisen im privaten Wohnungsbestand, wie seinerzeit im Roten Wien, mit hohen Steuern für private Besitzer_innen einhergehen, Gelder, die man dann wieder zum Bau städtischer Wohnungen benützt – womit graduell die Kräfte am Immobilienmarkt ausgeschaltet werden“[9].
Das Rote Wien
Das Beispiel vom Roten Wien der 1920er-Jahre spielt auch in Paul Masons Vision von Manchester 2080 eine Rolle. Es gibt wahrlich wenige vergleichbar erfolgreiche, praktisch umgesetzte Modelle, an denen sich die Zukunftsvisionen heute orientieren können. Was für die sozialistische Wohnungspolitik das Rote Wien ist, ist für den kybernetischen Sozialismus das chilenische Projekt Cybersyn. Inspirierend, so Ulrike Herrmann im Kapitel „Welt ohne Wachstum?“, könnte es für die heutigen Probleme auch sein, „sich nochmals mit der britischen Kriegswirtschaft zwischen 1940 und 1945 zu befassen: Es sei ein ‚Kapitalismus ohne Markt, der bemerkenswert gut funktioniert hat.‘“[10] Die staatliche Lenkung sei zu der Zeit „ungemein populär“ gewesen, die Bevölkerung war so gesund wie nie, und es gab keinen Mangel an Lebensmitteln. „Die Fabriken blieben in privater Hand, aber die Produktionsziele von Waffen und Konsumgütern wurden staatlich vorgegeben.“[11] Vielleicht wäre ein staatlich gesteuerter Kapitalismus auch in den Friedenszeiten eine Antwort, so Ulrike Herrmann, vielleicht auch nicht. Es fehle eigentlich nicht an Konzepten, „wie eine ökologische Kreislaufwirtschaft aussehen könnte“[12], die dem Kapitalismus folgt. Was fehlt, sind Konzepte dafür, wie der Übergang vom Kapitalismus zur Kreislaufwirtschaft gelingen kann, ohne die Welt gleich in eine furchtbare Krise zu stürzen. „Alle großen Krisen waren ungemein gefährlich – für die Demokratie.“[13]
Das Ende des Kapitalismus zu prognostizieren, reicht leider nicht aus. Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt, besagt ein japanisches Stichwort: „gemäßigte Radikalität“ schlägt Robert Misik vor, um zu zeigen, dass „die verschiedene Spielarten des demokratischen Sozialismus“ immer noch Ideen haben, wie man das Leben der „normalen Menschen“ nachhaltig verbessern könnte. „Unternehmen können durch Betriebsverfassungen dazu gezwungen werden, die Beschäftigten am Management zu beteiligen. Genossenschaften können gefördert werden, ein dritter Sektor, und gemeinwohlorientierte staatliche Banken können gerade diese Sektoren besonders unterstützen. Jährliche tarifliche Lohnerhöhungen können auch so gestaltet werden, dass die Beschäftigten einerseits mehr Geld erhalten, andererseits Anteile am Unternehmen, sodass nach einigen Jahrzenten langsam die Unternehmen in den realen Mitbesitz ihrer Beschäftigten übergehen“, zählt Misik auf.
Ein guter Plan
Angst, mit radikalen Ideen, wie diesen, die (moderaten) Wähler zu verschrecken, bräuchten die sozialdemokratischen Parteien laut Misik heute nicht mehr zu haben. Nach Jahren der Wahlkämpfe und Politik, die die „Mitte“ adressieren wollte, sei es genau umgekehrt: „Wegen des Mangels ambitionierter Ziele glaubt man ihnen im Grunde nicht mehr, dass sie wirklich etwas Signifikantes gegen einen wild gewordenen Kapitalismus ausrichten können – und deswegen verlieren sie an Zuspruch.“[14]
Bisweilen sind Zukunftskonzepte noch vom Mangel an ökonomischer Fantasie geprägt. Dafür hat Paul Mason Verständnis: „Um die Kämpfe der 2020er-Jahre zu bestehen, muss die Linke eine eigene Utopie entwickeln“[15] – das WAS also. Und dann noch das WIE: Ulrike Herrmann nimmt Ökonomen in die Pflicht, den Komplettumbau zu modellieren. Klingt schon mal nach einem guten Plan. Es stellt sich die Frage, ob diese ganze Digitalisierung, Automatisierung, die künstlichen Intelligenzen und smarten Maschinen nicht dabei helfen könnten, den Übergang in eine neue, bessere und ökologische Zukunftsgesellschaft zu modellieren und zu optimieren. Denn eigentlich war das das ursprüngliche Ziel der Pioniere der Kybernetik. Doch darüber wird es eventuell ein weiteres Utopien-Buch geben müssen: Bisher haben alle arbeitssparenden Maschinen, die erfunden wurden, leider die Mühsal nicht eines einzigen Menschen vermindert, um John Stuart Mill zu paraphrasieren.
Thomas Hartmann / Jochen Dahm / Frank Decker (Hg.). 2020. Utopien. Für ein besseres Morgen. Bonn: Dietz Verlag, 224 S. Erschienen: Oktober 2020.
[1] Hartmann, T, Dahm, J. und Decker, F. (Hrsg.) 2020. Utopien. Für ein besseres Morgen. J. H. W. Dietz: Bonn, S. 17. [2] Ebenda, S. 24. [3] Ebenda, S. 20. [4] Ebenda, S. 31. [5] Ebenda, S. 215. [6] Ebenda, S. 216. [7] Ebenda, S. 219. [8] Ebenda, S. 220. [9] Ebenda, S. 43. [10] Ebenda, S. 117. [11] Ebenda. [12] Ebenda, S. 111. [13] Ebenda, S. 112. [14] Ebenda, S. 44–45. [15] Ebenda, S. 219.