8. August 2016
Buchtipp/Informationsfreiheit
Iss diese Wurzel! Das Drama des Fortschritts von Johano Strasser
- Foto: Alexander Svensson - CC BY 2.0
Über Anekdoten lacht man umso mehr, je realitätsnaher sie sind. Etwa so, wie bei dieser Kurzgeschichte, die den medizinischen Fortschritt über die Jahrhunderte in Form von Anweisungen eines Arztes (oder Heilers) an seinen Patienten lakonisch zusammenfasst:
2000 v. Ch.: Iss diese Wurzel!
1000 n. Ch.: Diese Wurzel ist heidnisch – bete!
1865 n. Ch.: Beten ist Aberglaube – trink diese Mixtur!
1935 n. Ch.: Diese Mixtur ist Betrug – nimm diese Pille!
1975 n. Ch.: Diese Pille wirkt nicht – nimm das Antibiotikum!
2000 n. Ch.: Dieses Antibiotikum ist Gift – iss diese Wurzel!
„In den reichen Ländern des Westens werden sich die Menschen zu der Einsicht durchringen müssen, dass einige der Entwicklungen, die sie sich angewöhnt haben als Fortschritt zu verbuchen, global betrachtet und in einer weiteren Zeitperspektive als Rückschritte zu werten sind […]“[1], schreibt Johano Strasser in seiner aktuellen Analyse Das Drama des Fortschritts. Die Entwicklungen, deren negative Auswirkungen erst neuerdings erkannt wurden, sollten sogar sofort gestoppt werden. Man denke dabei nur an das inzwischen sehr modisch gewordene Stichwort „Entnetzung“.
Auch wenn man heute den Eindruck gewinnen könnte, der Fortschritt käme nur noch aus den Schmieden des Silicon Valley: Innovation und Disruption gab es lange bevor Columbus Amerika überhaupt erst entdeckte. Gerade das späte Mittelalter, entgegen der weitverbreiteten Meinung, war nicht nur eine Zeit der „beginnenden Entdogmatisierung des religiösen Denkens, sondern auch eine Zeit der praktischen Erfindungen. Die Kogge, das Kummet, Wind- und Wassermühlen, der Trittwebstuhl, das Spinnrad, Kompass, Brille und mechanische Zeitmessgeräte, all das sind Erfindungen oder technische Verbesserungen älterer Erfindungen, die in diese Epoche fallen. Dazu kommen die schrittweisen Verbesserungen bei Stadtrechten, Zunftordnungen und in der allgemeinen Gerichtsbarkeit, die Nutzung der schiffbaren Wasserläufe, der Ausbau des Wegnetzes und die Etablierung eines europaweiten Nachrichtensystems, das sich vor allen der großen Handelsrouten bediente“[2], so Strasser.
Die christliche Lehre ebnete dem Fortschritt den Weg, indem sie den Menschen die Möglichkeit des Triumphs über den Tod eröffnete – während die Antike eine unausweichliche Unterwerfung des Menschen unter das Rad der Zeitlichkeit symbolisierte und zugleich den bis heute im Fortschrittsdenken nachhallenden Gedanken der Naturferne, wenn nicht gar Naturfeindschaft, einpflanzte. Die drei abrahamitischen Religionen, also die jüdische, christliche und islamische, vor allem jedoch das Christentum, hätten die Natur radikal entsakralisiert und den Menschen ins Zentrum des Kosmos gestellt. Mit dem Ergebnis, dass der Mensch heute mitten in der Natur wie eine „Besatzungsarmee“ in einem fremden Land steht und für seine Ökonomie alle Stoffe, Pflanzen, ja selbst die Tiere und „am Ende ironischerweise wohl auch der Mensch selbst!“[3], zum bloßen „Material lukrativer Verwertung“ werden.
Die zerstörerischen Nebenwirkungen des Fortschritts sind dennoch weder alleine die Erscheinungen einer kapitalistischen Wirtschaft noch der Industrialisierung und Automatisierung der Neuzeit. Ob die Verseuchung der Erde im vorkolumbischen Amerika oder die Vergiftung von Flüssen und Seen durch Gerbereien im Spätmittelalter – Zerstörung begleitet den Fortschritt bereits seit der Antike. Neu ist allerdings, dass die Auswirkungen nicht mehr lokal oder regional begrenzt, sondern global sind. Und zwar was sowohl die Umwelt als auch den Menschen selbst – die Gesellschaft – angeht.
„Das, was wir heute Globalisierung nennen, der Prozess zunehmender wechselseitiger Abhängigkeit zwischen den Ländern und Regionen auf dem Erdball und einer fortschreitenden Vereinheitlichung der wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Entwicklung überall auf der Welt wirft zudem […] Fragen […] auf, […] nämlich, wie der Reichtum der Kulturen und identitätsstiftenden Lebensformen bewahrt werden […] kann.“
Eine in diesem Kontext immer wiederkehrende Frage ist auch die nach den moralischen Grenzen des Fortschritts, nämlich „ob dem Machbarkeitswahn von Wissenschaft und Technik ethische Grenzen gesetzt werden sollten und wie diese durchgesetzt werden könnten.“[4]
Doch konservative Haltung gegenüber dem Fortschritt und Technik scheint es heute kaum noch zu geben. Nicht nur die Menschen haben offensichtlich heute keine Wahl mehr, außer mit dem Fortschritt zu gehen, „das heißt, die wissenschaftlich-technisch-ökonomische Entwicklung als unaufhaltsam und unumkehrbar hinzunehmen und sich entsprechend anzupassen“[5]. Der Bestsellerautor und Jurist Victor Mayer-Schönberger fragte kürzlich sein Publikum in Bonn, ob man tatsächlich glaube, als Einzelperson sein Recht auf Privatheit und Datenschutz gegen Internetkonzerne wie Google oder Facebook durchsetzen zu können. Es dürfte ziemlich klar sein, wie aussichtslos dies sei. Gesellschaftliche, kollektive Lösungen müssten her. Welche? Die Antwort sparte er sich für sein nächstes Buch auf.
„Auch die Nutzung der digitalen Techniken kann und muss demokratischen und humanen Normen unterworfen werden“, so Strasser. Doch wer heute für die Regulierung der digitalen Welt eintritt, gerät leicht in den Ruf des Fortschritts- und Technikfeindes.
„Wer die Macht der Big-Data-Monopole beschneiden will, muss damit rechnen, nicht nur als Spielverderber, sondern auch als Etatitst und Feind des freien Unternehmertums und des Fortschritts angeschwärzt zu werden. Wer der Kontrollwut der Geheimdienste Einhalt gebieten will, muss darauf gefasst werden, dass ihm entgegengehalten wird, er vernachlässige das legitime Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung.“
Doch stehen wir wirklich vor der Alternative: entweder der Untergang in Freiheit oder Rettung durch die Einschränkung der Freiheit? Oder ist es vielmehr so, dass die neoliberalen Eliten des Finanzkapitalismus in der Demokratie eine Gefahr für die von ihnen favorisierte libertäre Marktordnung und jeden korrigierenden Eingriff als Störung der kapitalistischen Selbstregulierung und die Demokratie als eine veraltete Technologie sehen, wie etwa Randolph Hencken, Direktor des kalifornischen The Seasteading Institute.
„Hier liegt wohl auch der Grund dafür, dass unter Politikern aller Parteien heute die Rede von Gestaltung so beliebt ist“, kritisiert Strasser, „man möchte die Entwicklung, den Fortschritt, die Zukunft gestalten, aber die Entwicklung zu steuern, ihr eine Richtung vorzugeben, gar gefährliche Entwicklungen ganz zu stoppen, das traut man sich zumeist nicht zu.“[6][7] Es sei daher kein Wunder, dass in den meisten Fällen politisch steuernd erst dann eingegriffen wird, wenn die befürchteten Katastrophen bereits eingetreten sind.
Fertige Lösungen hat natürlich auch Johano Strasser nicht, doch er hegt ernsthafte Zweifel daran, „dass dieser unaufhaltsame Fortschritt für uns und unsere Kinder und Enkel zu einer wirklichen Verbesserung der Lebensqualität führen wird.
Nicht nur die Glücks- und Freiheitsverheißung, die mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt traditionell verknüpft war, auch die Wohlstandsverheißung, die sich bisher mit dem ökonomischen Wachstum verband, wird mit wachsender Skepsis betrachtet, weil der erarbeitete Reichtum heute fast ausschließlich einer kleinen Minderheit zugutekommt […]“[8]. Dennoch ist der wissenschaftlich-technisch-ökonomische Fortschritt, den viele für den Fortschritt schlechthin halten, nur ein Teil des Fortschritts, wie er seit dem Aufklärungszeitalter verstanden wird. Der gesellschaftlich-politische Fortschritt – die Erkämpfung der Demokratie und Rechtsstaat und die Institutionalisierung von Menschenrechten – ist der Garant und Voraussetzung dafür, dass Entscheidungen getroffen oder revidiert werden und dass die Menschen aktiv Einfluss auf ihre Zukunft nehmen können. „Freiheit ist nicht selbstverständlich“, so Strasser, deswegen sei es so wichtig, darüber aufzuklären, warum das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, ein wirksamer Datenschutz und die individuelle Kontrolle über das, was mit den eigenen Daten geschieht, „unverzichtbare Voraussetzungen für Demokratie und Freiheit sind“[9].
Johano Strasser: Das Drama des Fortschritts, Dietz Verlag, 424 Seiten, 34,00 Euro, ISBN 978-3-8012-0477-8
[1] Strasser, Johano (2015) Das Drama des Fortschritts, S. 178. [2] Ebenda, S. 58. [3] Ebenda, S. 169. [4] Ebenda, S. 157. [5] Ebenda, S. 159. [6] Ebenda, S. 398. [7] Ebenda, S. 159. [8] Ebenda, S. 15. [9] Ebenda, S. 398.